Litsch: Spahn ist auf dem ordnungspolitischen Holzweg
(ots) - Die AOK-Gemeinschaft bekräftigt in ihrer heute
vorgelegten Stellungnahme zum Referentenentwurf des sogenannten
"Faire-Kassenwahl-Gesetzes" (GKV-FKG) ihre Kritik an den Plänen des
Bundesgesundheitsministers: "Herr Spahn ist auf dem
ordnungspolitischen Holzweg", sagt Martin Litsch,
Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, aus Anlass der
Vorstellung des Papiers. Das Vorhaben, die regionalen Krankenkassen
zu einer bundesweiten Öffnung zu zwingen, mache die Kassenwahl nicht
fairer, sondern führe zu einem falschen Kassenwettbewerb: "Gute und
passgenaue Versorgungsverträge entstehen vor allem dort, wo
Ortskenntnis, hoher Marktanteil und regionales Engagement vorhanden
sind. Nur dann stehen sowohl genügend personelle Ressourcen als auch
finanzielle Mittel zur Verfügung, um innovative Versorgungsformen ins
Leben zu rufen und voranzubringen", so Litsch. Eine Öffnung der
regionalen Kassen für Versicherte aus anderen Regionen werde daher
nicht zu einer besseren Versorgung führen, sondern zu einem
einseitigen Fokus auf den Preiswettbewerb. Daher sei das Gesetz eine
Mogelpackung.
Zentralisierung und Vereinheitlichung statt Versorgungswettbewerb
Der Wettbewerb um den günstigsten Beitragssatz, der mit dem
GKV-FKG gefördert wird, interessiere "vor allem junge und gesunde
Versicherte", so Litsch. Für Versichertengruppen wie chronisch
Kranke, die auf qualitativ hochwertige Versorgungsangebote der
Krankenkasse vor Ort angewiesen sind, habe das Ganze dagegen keinen
Mehrwert. Aufgrund der spezifischen Strukturen der Leistungserbringer
in den einzelnen Regionen könne nicht jeder erfolgreiche Vertrag
einfach von einer Region in die andere übertragen werden. So habe zum
Beispiel das Hausarztmodell der AOK Baden-Württemberg für einen
Versicherten, der ihm in Hamburg beitritt, keinen Sinn. "Das
ordnungspolitische Ziel der Öffnung bleibt völlig unklar", kritisiert
Litsch. Statt die Gestaltungsspielräume der Kassen vor Ort zu
erweitern, setze das Gesetz auf Zentralisierung und Vereinheitlichung
von Versorgungsstrukturen. Aktuell können die elf AOKs zahlreiche
innovative und regionalspezifische Versorgungsverträge und über 1.200
Geschäftsstellen vorweisen, während sich viele bundesweit
konkurrierende Kassen aus der Versorgungssteuerung und aus der Fläche
zurückgezogen hätten.
Juristen sehen Zustimmungsplicht der Länder
Der AOK-Vorstand weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die
organisationsrechtlichen Änderungen des Gesetzes aus Sicht der
Rechtsexperten der AOK die Zustimmung der Bundesländer benötigen:
"Sowohl das Grundgesetz als auch die sozialrechtlichen Regelungen
sehen grundsätzlich eine Trennung der Kassenstrukturen und der
Aufsichten auf Bundes- und Landesebene vor", so Litsch. Die
unmittelbare gesetzliche Einführung einer einheitlichen
Rechtsaufsicht erfordere daher eine Änderung des Grundgesetzes. Der
vom GKV-FKG stattdessen eingeschlagene Weg einer mittelbaren
Kompetenzverlagerung durch eine Entregionalisierung mache allerdings
verwaltungsrechtliche Folge-Regelungen mit Wirkung für die Länder
erforderlich: "Die bestehenden Verwaltungsstrukturen auf Landesebene
sind mit der Neuregelung der Kassenorganisation nicht mehr
vereinbar." Die notwendige Neuregelung zur künftigen Verfasstheit und
Aufgabenwahrnehmung der Kranken- und Pflegekassen im vertraglichen
Versorgungsgeschehen auf Landesebene fehle im Gesetzesentwurf
schlichtweg.
RSA-Teil: Für jeden etwas dabei
Die im Referentenentwurf enthaltenen Pläne zur Weiterentwicklung
des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA)
zwischen den Krankenkassen sieht die AOK differenziert: Die
vorgesehene Einführung eines Krankheits-Vollmodells sowie von
Altersinteraktionstermen seien stringent, sagt der stellvertretende
Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoyer:
"Alle Experten sind sich einig, diese Maßnahmen zu einer deutlichen
Verbesserung der Zielgenauigkeit bei kranken und gesunden
Versicherten führen." Die vorgeschlagene Nicht-Berücksichtigung der
Erwerbsminderungsrentner widerspreche dagegen den Empfehlungen der
Experten aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim
Bundesversicherungsamt. "Das ist ordnungspolitisch fatal und setzt
eine besonders schutzbedürftige Versichertengruppe massiven Anreizen
zur Risikoselektion aus", so Hoyer. Die Einführung einer sogenannten
Regionalkomponente erweise sich bei näherem Hinsehen als "getarnter
Metropolenzuschlag". Eine solche Maßnahme leite finanzielle Mittel
aus strukturschwachen, oft ländlichen Regionen in überversorgte
städtische Gebiete.
Der ebenfalls vorgesehene Risikopool für kostenintensive
Krankheiten ist aus Sicht der AOK nicht zielführend. "Das Vollmodell
soll dafür sorgen, dass künftig alle ausgabenintensiven Krankheiten
mit Zuschlägen bedacht werden. Bevor man also einen zusätzlichen
Risikopool schafft, sollte erst einmal die Wirkung des Vollmodells
beobachtet und dann in der Logik des RSA nach Ansätzen zum Abbau der
gegebenenfalls verbleibenden Unterdeckungen gesucht werden. Ein
Ist-Kosten-Ausgleich setzt dagegen falsche Anreize, zumal ein
Risikopool mit hohem Verwaltungs- und Prüfaufwand verbunden wäre."
Zielgenaue Versorgungsverträge gefährdet
Die AOK begrüßt außerdem Maßnahmen zur Stärkung der
Manipulationsresistenz in den Datengrundlagen für den RSA. Diese
müssten allerdings kalkulierbar sein und Rechtsicherheit schaffen.
Zudem dürften sie nicht zielgenaue Versorgungsverträge inklusive der
Vergütung medizinischer Leistungen konterkarieren. "Wir unterstützen
das bereits bestehende Verbot der Vergütung von Diagnosekodierungen
und die Einführung von ambulanten Kodierrichtlinien", so Hoyer. Aus
Sicht der AOK-Gemeinschaft besteht aber die Gefahr, dass das Gesetz
übers Ziel hinausschießt: So soll die Vergütung von Leistungen, die
aus medizinischen Gründen ganz gezielt besonderen Patientengruppen
mit bestimmten Krankheiten angeboten werden, nur noch unter Rekurs
auf einen "allgemein Krankheitsbegriff" erlaubt sein. "Das wäre ein
K.-o.-Kriterium für viele Versorgungsverträge für spezifische
Patientengruppen", kritisiert Jens Martin Hoyer.
Die gesamte Stellungnahme des AOK-Bundesverbandes zur Fachanhörung
im Bundesgesundheitsministerium am 6. Mai steht im Internetauftritt
des Verbandes zum Download bereit:
https://www.aok-bv.de/positionen/stellungnahmen/
Scharfe Kritik der Selbstverwaltung
Bereits am Freitag (12. April) hatte der Aufsichtsrat des
AOK-Bundesverbandes eine Resolution zum Referentenentwurf für das
GKV-FKG verabschiedet. Darin betont das Gremium den Stellenwert der
sozialen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, lehnt die von
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geplante bundesweite Öffnung der
AOKs strikt ab und kritisiert scharf "die Politik eines zunehmend
ministeriell gelenkten Gesundheitswesens". Die Resolution steht
ebenfalls zum Download bereit:
https://www.aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2019/index_22007.html
Pressekontakt:
Dr. Kai Behrens
Telefon: 030 / 34646-2309
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Datum: 16.04.2019 - 10:00 Uhr
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