BERLINER MORGENPOST: Bedrohliche Entwicklung / Leitartikel von Miguel Sanches zu Hassattacken gegen Politiker
(ots) - Kurzform: Die Verfassungsschützer haben die
Entwicklung gesehen, der Hauptfokus der Behörden galt jahrelang dem
Kampf gegen den Islamismus. Wurde der Terror von rechts verharmlost?
Die Frage stellt sich - nach dem Fall Lübcke, nach der Drohung gegen
Mohring. Die Innenpolitiker haben den Hebel umgelegt, sind dabei, die
Strafen zu verschärfen, den Ermittlungsdruck in den sozialen
Netzwerken zu erhöhen, mehr Beamte im Kampf gegen rechts zu
mobilisieren. Es wird dauern, bis sich erste Erfolge zeigen. Und: Die
Gesellschaft wieder ins Lot zu bringen, ist eine politische Frage,
weniger eine polizeiliche.
Der vollständige Leitartikel: Wer töten will, ist kaum zu stoppen.
Die NSU-Terroristen taten es jahrelang ohne Drohungen, Ankündigungen
oder Bekennerschreiben. Sie passten nicht zum gängigen Muster. Die
Leute, die seit gut einem Jahr Hunderte von Morddrohungen
verschicken, gieren nach Aufmerksamkeit - eine leichte Übung im
Zeitalter des Internet. Wenn es damals schon möglich gewesen wäre,
hätten die Entführer der RAF in den 70er-Jahren ihre Anschläge wie
der Attentäter von Halle als Livestream übertragen. Der Thüringer
CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring musste die Morddrohung gegen ihn
nicht an die große Glocke hängen. Er tat es mit Bedacht,
demonstrativ, unter dem Eindruck von Halle und aus ähnlichen Motiven
wie Andreas Hollstein, der Bürgermeister von Altena, Ende 2017: Um
darauf aufmerksam zu machen, dass die Zahl der Hassnachrichten an
Amtsträger steigt, und um eine Solidarisierung mit den Opfern zu
erreichen. Aus ähnlichen Motiven hatte sich Bundespräsident
Steinmeier noch im Sommer öffentlichkeitswirksam mit Bürgermeistern
getroffen, die übel beschimpft wurden. Die Demokraten dürfen sich
nicht kleinmachen. Das Dilemma ist, dass es nur eine Wahl zwischen
schlechten Alternativen gibt. Hasskommentare lassen sich nicht
ignorieren, weil sich über das Internet und die sozialen Netzwerke
leicht eine Gegenöffentlichkeit aufbauen lässt. Organisiertes
Desinteresse ist also keine realistische Option. Wer umgekehrt die
Öffentlichkeit sucht, muss sich freilich darüber im Klaren sein, dass
er sich erwartungsgerecht verhält. Das "Staatsstreichorchester", das
Mohring geschrieben hat, wollte nicht nur ihn bedrohen, zugleich
viele andere Personen des öffentlichen Lebens einschüchtern und
möglichst politisch mundtot machen. Man soll davor zurückschrecken,
sich für Fremde, Flüchtlinge einzusetzen. Deswegen sind die
Kommunalpolitiker so schlecht dran: Sie sind diejenigen, die
Integration organisieren, und diejenigen, die den Unmut ungefiltert
abbekommen. Die Verrohung der Sprache, ja der Gesellschaft hat einen
jahrelangen Vorlauf. Es ist offensichtlich, dass es 2015 einen
Filmriss gab. "Pegida" wurde Ende 2014 ins Leben gerufen, aber die
Volksverhetzung erreichte erst im Zuge der Flüchtlingskrise ihren
Höhepunkt. Längst haben sich die Zuzugszahlen normalisiert. Nur der
Hass hat sich nicht gelegt. Das sollte uns alarmieren, zumal die
Mehrheit der Migranten im Land bleiben wird und im Zuge der aktuellen
Syrienkrise noch mehr Flüchtlinge kommen könnten. Die politische
Polarisierung und der Hass können weiter zunehmen. Im Sommer 2015
bekannte Kanzlerin Angela Merkel, "wenn wir jetzt anfangen, uns noch
entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein
freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land". Vier
Jahre später ist es offensichtlich: Ein Teil Deutschlands ist nicht
Merkels Land. Der Auftrieb einer Partei wie der AfD ist auch dadurch
zu erklären, dass Teile des Bürgertums Extremisten gewähren lassen -
sie docken an die Mitte der Gesellschaft an. Die Verfassungsschützer
haben die Entwicklung gesehen, der Hauptfokus der Behörden galt
jahrelang dem Kampf gegen den Islamismus. Wurde der Terror von rechts
verharmlost? Die Frage stellt sich - nach dem Fall Lübcke, nach der
Drohung gegen Mohring. Die Innenpolitiker haben den Hebel umgelegt,
sind dabei, die Strafen zu verschärfen, den Ermittlungsdruck in den
sozialen Netzwerken zu erhöhen, mehr Beamte im Kampf gegen rechts zu
mobilisieren. Es wird dauern, bis sich erste Erfolge zeigen. Und: Die
Gesellschaft wieder ins Lot zu bringen, ist eine politische Frage,
weniger eine polizeiliche.
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Datum: 21.10.2019 - 20:02 Uhr
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