Streit um Lebensmittelpunkt - Gericht muss Kind persönlich anhören
(IINews) - (red/dpa). Nach einer Trennung müssen Eltern entscheiden, bei wem die Kinder leben. Gibt es darüber keine Einigung, muss das Gericht dies festlegen. Um diese Entscheidung zu treffen, müssen die Richter in aller Regel das Kind persönlich anhören.
Als die Eltern sich trennten, entschieden sie, dass der seinerzeit einjährige Sohn beim Vater, die Tochter bei der Mutter leben würde. Der Vater litt an einer massiven Alkoholabhängigkeit. Im April 2022 wurde dem Jugendamt anonym gemeldet, dass deswegen eine Kindeswohlgefährdung des Sohnes bestehe. Es liege ein psychischer Missbrauch des Kinds vor. Ein Hausbesuch des Jugendamts ergab, dass der Vater in der Vergangenheit einen Suizidversuch und einen erweiterten Suizidversuch unternommen hatte. In der Folge unterzog sich der Vater wegen einer schweren depressiven Episode in Kombination mit einer posttraumatischen Belastungsstörung und Alkoholabhängigkeit erneut einer stationären psychiatrischen Behandlung.
In der Folge kam es unter anderem zu einem weiteren Hausbesuch des Jugendamts, bei dem die Mitarbeitenden den Vater in einem fahrigen, gestresst und verwirrt wirkenden Zustand antrafen. Das Jugendamt entschied daraufhin in Abstimmung mit den Eltern, dass der Sohn sofort zur Mutter umziehen werde.
Lebensmittelpunkt: Anhörung des Kinds wichtige Entscheidungsgrundlage
Das Gerichtübertrug das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter. Zuvor hatte es die Eltern und zwei Vertreterinnen des Jugendamts persönlich angehört, nicht jedoch den Sohn. Von einer persönlichen Anhörung des Kindes habe man abgesehen, weil sich der Kindeswille auch aus den Schilderungen desVaters ableiten lasse. Diesen Kindeswillen dürfe man aber nicht beachten, weil er sich zum Nachteil des Kindes auswirken würde. Der Vater legte Beschwerde ein.
Das Oberlandesgericht verwies das Verfahren zurück an das Familiengericht, da es schwerwiegende Verfahrensmängel erkannt hatte. Dazu gehörte, dass die Richter den Jungen nicht angehört hatten. Das Gericht muss dies jedoch tun und sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen. Die Anhörung diene unter anderem derErmittlung des Kindeswillens.
Das Gericht hat die Aufgabe, das Verfahren unter Berücksichtigung des Alters, des Entwicklungsstandes und der sonstigen Fähigkeiten des Kindes so zu gestalten, dass das Kind seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden lassen kann.
Neben dem Gespräch mit dem Kind dient die persönliche Anhörung auch dazu, sich von dem Kind einen Eindruck zu verschaffen, um daraus Rückschlüsse auf dessen Befindlichkeit, Wünsche, Neigungen und Bindungen zu ziehen.
Die Annahme des Amtsgerichts, der Kindeswille lasse sich aus dem Vortrag eines Elternteils ableiten, sei bereits im Ausgangspunkt verfehlt. Bestehe ein Streit um den künftigenLebensmittelpunkt des Kindes, sei dies in der Regel den emotionalen Ansprüchen beider Elternteile ausgesetzt. Bei Kindern, die sich in einem Loyalitätskonflikt zwischen ihren Eltern befänden, sei es geradezu typisch, dass sie es beiden Elternteilen recht machen wollten und sich diesen gegenüber jeweils so äußerten, wie sie es seiner Meinung nach erwarteten.
Sollte tatsächlich der Wille des Kindes mit seinem Wohl nicht in Einklang zu bringen sein, sei dies in der Entscheidung zu begründen, entbinde das Gericht jedoch nicht von vornherein von der Pflicht, den Kindeswillen zu erforschen. Der Kindeswille sei zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar sei.
Hier würden die Eltern um den Lebensmittelpunkt des Kinds streiten. Der Wille des Kinds, aber auch der aus der persönlichen Anhörung durch das Gericht gewonnene Eindruck von dem Kind könne einen maßgeblichen Beitrag zur Entscheidungsfindung leisten. Der Sohn habe etwas mehr als vier Jahre seines Lebens in der Obhut des Vaters verbracht. Vor diesem Hintergrund sei zu erwarten, dass der fast Sechsjährige durchaus Bindungen, Neigungen und Wünsche zum Ausdruck bringen könne, die auf die Entscheidung Einfluss haben könnten.
Oberlandesgericht Karlsruhe am 20. Februar 2024 (AZ: 18 UF 221/23)
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