Mord an Walter Lübcke: Tatverdächtiger für AfD aktiv
(ots) - Der Hauptverdächtige im Mordfall des Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke hatte offenbar engere Verbindungen zur AfD
als bisher bekannt. Nach Recherchen des NDR soll der Rechtsextremist Stephan E.
die AfD im hessischen Landtagswahlkampf 2018 unterstützt haben. So soll E. unter
anderem Wahlplakate aufgehängt und mehrere Treffen der Partei in Nordhessen
besucht haben. Das haben AfD-Mitglieder gegenüber der Polizei angegeben, wie NDR
Recherchen ergaben. Bisher waren lediglich eine Spende an die Partei sowie die
Teilnahme an einer AfD-Demonstration in Chemnitz 2018 bekannt.
Nachdem Mitte Juni vergangenen Jahres bekannt geworden war, dass Stephan E. für
den Mord an Walter Lübcke verantwortlich sein soll, meldete sich der ehemalige
Kreisvorsitzende der Kasseler AfD bei der Polizei. Er schilderte den Beamten,
dass Stephan E. im Wahlkampf zur Landtagswahl 2018 beim Plakatieren geholfen
habe. E. sei ihm zuvor nicht bekannt gewesen. Das geht aus Unterlagen hervor,
die der NDR einsehen konnte. Der ehemalige AfD-Funktionär hatte bei der Wahl für
den Hessischen Landtag kandidiert. Später habe er den heute in Untersuchungshaft
sitzenden E. bei der Wahlparty in einem Stammlokal der AfD in Kassel gesehen,
sagte der Zeuge gegenüber der Polizei. Auf Anfrage des NDR wollte sich der
ehemalige AfD-Kreisvorsitzende dazu nicht äußern.
Nach Recherchen des NDR haben weitere Zeugen bei der Polizei ausgesagt, sie
hätten den Mordverdächtigen E. bei AfD-Treffen gesehen. Ein AfD-Anhänger aus
Kassel sagte den Ermittlern, er habe E. Ende 2018 bei einem Vortrag bei der AfD
kennengelernt. Man habe sich auch mehrmals privat getroffen, aber nie über
Politik gesprochen.
Auch der heutige Vorsitzende der AfD in Kassel hatte Stephan E. bei
Partei-Veranstaltungen gesehen. Nachdem Medien im Juni Fotos des Verdächtigen
veröffentlicht hatten, erkannte der AfD-Funktionär das Gesicht, erklärte er in
einer Aussage bei der Polizei. Bei mindestens drei Versammlungen der AfD habe er
E. gesehen, sagte der AfD-Mann den Ermittlern. E. habe sich immer zurückgehalten
und in den hinteren Reihen gesessen. Zu einer Veranstaltung sei E. in Begleitung
eines anderen Mannes gekommen.
Auf Anfrage des NDR bestätigte die AfD Hessen, dass Stephan E. "bei einigen für
alle interessierten Bürger frei zugänglichen Veranstaltungen der AfD in
Kassel-Stadt zugegen" war. E. und sein Umfeld seien für die örtlichen
AfD-Politiker "völlig unbekannt" gewesen. Noch im Juni 2019 habe der
AfD-Kreisvorsitzende die Landes- und Bundesspitze der AfD informiert. Umgehend
habe die Partei auch die Ermittler über die Anwesenheit auf AfD-Veranstaltungen
und die Hilfe im Wahlkampf unterrichtet. Die weitere Steuerung der Information
sei von der AfD "komplett den Behörden überlassen" worden, da es sich um eine
laufende Ermittlung handele.
Im September 2019 hatte der Bundesverband der AfD dem NDR über einen Anwalt
mitteilen lassen, dass eine Nähe zwischen dem Mordverdächtigen und der Partei
"in keinster Weise bestand oder besteht". Damals hatte der NDR die Partei um
eine Stellungnahme zu einer Spende gebeten, die Stephan E. an die AfD getätigt
haben soll.
Eine Anfrage des NDR zu den neuen Recherchen ließ der AfD-Bundesverband
unbeantwortet. Der Verteidiger von Stephan E. wollte sich zu den neuen NDR
Recherchen nicht äußern.
Bei der Durchsuchung des Wohnhauses des mutmaßlichen Lübcke-Mörders Stephan E.
fanden die Ermittler nach Recherchen des NDR Unterschriftenlisten mit den Namen
von AfD-Kandidaten. Gegenüber dem Hessischen Landeskriminalamt hat eine Zeugin
zudem ausgesagt, Stephan E. habe zusammen mit dem mutmaßlichen Mordhelfer Markus
H. 2016 und 2017 an AfD-Demonstrationen in Erfurt teilgenommen.
Nach Einschätzung des Kasseler Politikwissenschaftlers Prof. Wolfgang Schroeder
könne die AfD zwar nichts dafür, wenn sich Rechtsextremisten wie Stephan E. für
sie einsetzen. Man müsse sich aber fragen, warum er gerade zur AfD gegangen sei.
Die AfD habe sich im Laufe der Zeit radikalisiert, sagt Prof. Schroeder im
Interview mit dem NDR Magazin "Panorama 3". So sei die Partei auch für
Rechtsextremisten interessant geworden. "Extremistische Kräfte, die nicht nur
die Verfassung ändern wollen, sondern sogar bereit sind, Gewalt einzusetzen,
sehen in dieser Partei eine Projektionsfläche, einen Handlungsraum", erklärt der
Politologe.
Mehr dazu am Dienstag, 21. Januar, um 21.15 Uhr in "Panorama 3" im NDR
Fernsehen.
Online finden Sie "Panorama 3" unter www.NDR.de/panorama3
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