Die Stunde der Diplomatie / Leitartikel von Michael Backfisch
(ots) - Die Welt kann aufatmen - zumindest ein bisschen. Die große
Eskalationsspirale zwischen Amerika und dem Iran ist ausgeblieben. US-Präsident
Donald Trump hat am Mittwoch auf markige Worte und gefährliche Muskelspiele
verzichtet. Nach den iranischen Raketenangriffen auf zwei Militärbasen im Irak,
die auch von amerikanischen Soldaten benutzt wurden, hat Trump für seine
Verhältnisse erstaunlich moderat reagiert.
Er erwähnte ausdrücklich die vergleichsweise gemäßigte Antwort Teherans auf die
US-Tötung des iranischen Top-Generals Ghassem Soleimani. Dass eine
Vergeltungsaktion kommen werde, haben die Amerikaner eingepreist. Der genau
kalkulierte Umfang und der begrenzte Schaden haben zu der zurückhaltenden
Bewertung Trumps geführt. Wären US-Kräfte ums Leben gekommen, hätte seine Rede
anders ausgesehen.
Zumindest derzeit können beide Konfliktparteien gegenüber der eigenen Klientel
Gesichtswahrung reklamieren. Trump kann seine Version verbreiten: Der obererste
Unruhestifter iranischer Kräfte in Nahost, Soleimani, ist ausgeschaltet. Dies
gilt als Weckruf Richtung Teheran, die schiitischen Milizen im Irak und in
Syrien mehr zu kontrollieren. Zehn Monate vor der amerikanischen
Präsidentschaftswahl will Trump keinen großen Krieg mit dem Iran. Gewaltige
Verluste an Menschen und Material wären Gift für seine "Keep America
Great"-Kampagne. Ihm geht es vor allem um die Demonstration von Stärke. Irans
oberster Führer, Ajatollah Ali Chamenei, kann gegenüber der eigenen Bevölkerung
geltend machen: Nach der Tötung Soleimanis hat Teheran Vergeltung an den
Amerikanern geübt.
Dennoch ist all dies nur eine Atempause. Keine Seite will zusätzliches Öl ins
Feuer gießen. Doch Washington und Teheran verfolgen diametral entgegengesetzte
Interessen. Weitere Zusammenstöße sind daher unausweichlich.
Trump hat deutlich gemacht, dass er iranische Atomwaffen unter keinen Umständen
akzeptieren werde. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und China
sollten - wie die USA - aus dem Atomabkommen aussteigen. Vor diesem Hintergrund
will Trump zusätzlichen Druck aufbauen und die Wirtschaftssanktionen
verschärfen. Der Iran verfolgt hingegen das Ziel, die amerikanischen Truppen aus
dem Nahen Osten zu vertreiben. Das Mullah-Regime will eine "schiitische Achse
des Widerstandes" bilden, die vom Iran über den Irak und Syrien bis in den
Libanon reicht.
Wie weit sich dieses Konfliktszenario verschärfen kann, ist derzeit unabsehbar.
Es könnte sich im allerschlimmsten Fall bis zu einem globalen Konflikt
hochschaukeln. Kürzlich kam es im Golf von Oman erstmals zu einem gemeinsamen
Militärmanöver zwischen Russland, China und dem Iran. An einer globalen
Ausweitung des amerikanisch-iranischen Streits kann niemand Interesse haben.
Alle Parteien würden dabei verlieren.
Wann - wenn nicht jetzt - schlägt die Stunde der Diplomatie? Warme Worte,
eindringliche Appelle, die große Arie des "Hätte, könnte, sollte" reichen nicht
mehr. Warum reisen die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich
und Großbritannien samt ihrer Außenminister nicht in einer diplomatischen
Last-minute-Mission erst nach Teheran und dann nach Washington?
Die Auseinandersetzung muss sich weg von Waffen und hin zu einem politischen
Prozess bewegen. Vor allem müssen die Iraner dazu gebracht werden, nicht aus dem
Atomabkommen auszusteigen. Dazu brauchen sie auch Anreize - so
funktioniert Politik. Sollten die Mullahs ihr Heil in der Atombombe als
Lebensversicherung suchen - Modell Kim Jong-un in Nordkorea - wäre ein großer
Knall unausweichlich.
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