Mehr als einen Versuch wert/Die erste schwarz-grüne Regierung in Österreich geht Veränderungen an, die der Gesellschaft schon längst hätten zugemutet werden können. Von Adelheid Wölfl
(ots) - Wieso haben die Grünen zugestimmt, dass das Kopftuchverbot
für Schülerinnen bis 14 Jahre ausgeweitet werden soll, obwohl diese Schülerinnen
sicherlich nicht im Zentrum der Politik stehen wollen und höchstens als
Angst-Projektionsfläche benutzt werden? Wie kann es sein, dass die Ökos die ÖVP
nicht festgenagelt haben, wenn es um eine CO2-Abgabe geht, sondern erst einmal
jahrelang eine Taskforce verhandeln lassen? Wer das Koalitionsprogramm der
ersten Koalition zwischen den Konservativen und den Grünen auf Bundesebene in
Österreich liest, könnte zum Schluss kommen, dass die Ökos von der Kurz-ÖVP
schlichtweg über den Tisch gezogen wurden. "Papierln" heißt das in Wien. Die
Konservativen erhalten alle prestigeträchtigen, machtrelevanten Ressorts - elf
an der Zahl, darunter das Innenressort, das Außenressort, das Wirtschaftsressort
und natürlich die Finanzen. Aus dem Sozialressort, das den Grünen überlassen
wurde, wurden relevante Bereiche wie der Arbeitsmarkt herausgelöst. Auch das
Infrastrukturministerium ist um einige Teilbereiche erleichtert worden.
Insgesamt leiten die Grünen nur vier Ministerien. Die Koalition zwischen den
Türkisen - so heißen die Schwarzen seit dem Neu-Branding unter Sebastian Kurz -
und den Grünen, ist für die ÖVP sicherlich ein Anlass für das Abfeuern von
Neujahrsfeuerwerken, denn die Kanzlerpartei ist mächtiger denn je. Ihr Chef, der
smarte Sebastian Kurz, der immer wieder von "Demut" und "Verantwortung" spricht,
aber dabei die Macht im Auge hat, ist an einem neuen Höhepunkt seiner Karriere
angelangt. Seine Anpassungsfähigkeit, das Fehlen eines ideologischen Kompasses,
aber der gleichzeitig ausgeprägte Instinkt für öffentlichkeitswirksame Themen
zeichnen ihn aus. Die Grünen wirken daneben wie gutmütige Weltverbesserer, die
diese Strebsamkeit und diesen Herrschaftsanspruch nicht einmal verstehen können.
Trotzdem ist die neue Regierung in Österreich die beste, die es seit Jahrzehnten
gab. Denn erstmals werden nun Veränderungen angegangen, die einer derart
privilegierten und erfolgreichen Volkswirtschaft und einer derart gebildeten und
reichen Gesellschaft, schon längst hätte zugemutet werden können. "Österreich
ist ein wunderbares Land" steht am Anfang des mehr als 300-seitigen
Regierungsprogramms. Und das stimmt. In kaum einem anderen Land wird Menschen so
effizient geholfen, wenn sie Unterstützung brauchen. Die Gesundheitsversorgung,
der öffentliche Verkehr und die Umweltstandards sind so gut, dass jeder, der in
Österreich geboren wird, von Glück reden kann. Genau deshalb sollte dieses
kleine mitteleuropäische Land, das traditionell und historisch mit dem Osten und
Südosten des Kontinents verbunden ist, zumindest einen Probeanlauf wagen. Sind
Wirtschaftsinteressen mit ökologischem Bewusstsein und damit mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen langfristig vereinbar? Das wird nun
ausgetestet. Wird es möglich sein, diesen kleinen Staat, das Überbleibsel der
alten K&K-Monarchie, so zu gestalten, dass die Leute von den Autos auf den
öffentlichen Verkehr umsteigen und Klimaneutralität geschaffen wird? Nun wird
das ausprobiert. Es braucht ein Stück Intelligenz, Respekt und Ehrlichkeit. Die
ist im Regierungsteam vorhanden. Liebe ist das keine, die da in Wien jetzt
besiegelt wurde. Aber man hat den Eindruck, dass man dem anderen seinen
Gestaltungsraum lässt. Wenn man die wichtigsten Anliegen der ÖVP und der Grünen
vergleicht, dann scheint es auch ziemlich rational zu sein, dass die mächtigen
Konservativen den Versuch mit den Ökos wagen. Verkaufstechnisch ist diese
Koalition für Kurz nicht unangenehm. Die ÖVP setzt weiter auf das
Migrationsthema, und das zieht immer, auch wenn es inhaltlich voll Schall und
Rauch ist. Vielleicht wird Türkis-Grün scheitern, möglicherweise wird nur wenig
erreicht. Es ist dennoch mehr als einen Versuch wert.
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