Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Jahreswechsel
(ots) - Was ist das nur für eine verrückte Zeit, in der wir leben?
Auch am Silvesterabend wird uns das exemplarisch wieder vor Augen geführt. Wir
wollen den Hunger bekämpfen, aber gleichzeitig werden allein in Deutschland etwa
130 Millionen Euro für Feuerwerkskörper verballert. Wir wollen sorgsam mit der
Umwelt umgehen, aber dennoch werden zum Jahreswechsel rund 4500 Tonnen Feinstaub
freigesetzt. Das entspricht etwa 15,5 Prozent der jährlich im Straßenverkehr
abgegebenen Feinstaubmenge.
Weihnachten war das skurrile Verhalten nicht anders. Die Menschen sehnen sich
nach Besinnlichkeit, verfallen aber gleichzeitig in einen Konsum-, Kauf- und
später Umtauschrausch, als wenn es kein Morgen gäbe. Stress, Hektik und
Streit kommen manchmal noch dazu - was hat das eigentlich noch mit Weihnachten
zu tun?
Jeder kann leben, wie er möchte. Aber dennoch: Immer mehr ist eine Mentalität
wahrzunehmen, die stark an das Sprichwort "Wasch mir den Pelz, aber mach mich
nicht nass" erinnert. Der Mensch, das Gemeinsame und auch das Gespräch geraten
in den Hintergrund. Daran tragen unsere Hochleistungsgesellschaft und das
Internet zwar nicht die alleinige Schuld. Aber die "sozialen Medien" befeuern
den Prozess der Oberflächlichkeiten, des unechten Miteinanders und des
Werteverlustes in einer Weise, die nicht gut sein kann. Empathie und
Menschlichkeit, Respekt und Wertschätzung dürfen nicht an Bedeutung verlieren,
nicht im Internet, nicht im persönlichen Miteinander.
Das Jahr 2019 war geprägt von Geschehnissen und Entscheidungen, die nur schwer
zu verstehen sind. Und die uns mahnen sollten. Allen voran hat der antisemitisch
und rechtsextremistisch motivierte Anschlag in Halle am 9. Oktober für
Bestürzung gesorgt. Der Doppelmord und der Versuch des Täters, in einer Synagoge
ein Blutbad anzurichten, ist noch immer nicht zu begreifen.
Aber so sehr wir uns solidarisch mit den Juden in Deutschland erklären, so sehr
Politiker ihre Abscheu über diese entsetzliche Tat zum Ausdruck bringen, so sehr
hat der 9. Oktober 2019 uns vor Augen geführt, dass Antisemitismus in
Deutschland noch immer ein altbekanntes, grausames Phänomen zu sein scheint.
Niemand hat das Gotteshaus am jüdischen Gedenktag Jom Kippur geschützt.
Niemand. Nur eine einfache Holztür. Sie konnte das Massaker verhindern - das
muss die Lehre dieser Tat für immer und ewig sein! Daran sollte uns die Tür,
dieses Mahnmal, stets erinnern.
Nicht alles war schlecht im Jahr 2019, aber vieles darf gerne besser werden. Es
sind die Fragen des Lebens, die uns beschäftigen. Auf die es Antworten geben
muss. Finden wir das richtige Maß bei der Klimarettung? Akzeptieren wir, dass
die Globalisierung etwas mit uns zu tun hat, oder schotten wir uns lieber ab?
Erschaffen wir eine in der Sache weiterführende Streitkultur ohne Hass und
Hetze? Können wir ein neues Demokratieverständnis entwickeln, in dem jeder seine
Meinung sagen darf, in dem es aber auch rote Linien gibt, die nicht
überschritten werden dürfen?
Das sind nur einige der Themen, die uns angehen. Über die wir auch im Jahr 2020
und darüber hinaus diskutieren müssen. Zu denen wir die besten Argumente
brauchen. Hier sind die klügsten Köpfe unserer Republik gefragt, mit gutem
Beispiel voran zu gehen. Und hier sind alle Menschen gefragt, diesen Prozess
aktiv und positiv mitzugestalten.
Das Vertrauen der Menschen in die Qualität der Regierungsarbeit und die
Stabilität des politischen Systems ist signifikant gesunken. Das haben die
Wahlen im Osten gezeigt. Das zeigen die schlechten Umfragewerte der großen
Koalition. Aber wird automatisch alles besser, wenn Deutschland eine neue
Regierung bekommt?
Wir sollten nicht alles schlechtreden. Es gibt so viel Gutes. Wir sollten
wieder mehr lernen, Vertrauen zu entwickeln. In die Politik, in die
Gesellschaft, in den Rechtsstaat, in die Menschen. Fangen wir doch gleich heute
damit an. Die Gelegenheit zum Jahreswechsel bietet sich dazu prächtig an. Guten
Rutsch und ein schönes neues Jahr 2020!
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Datum: 30.12.2019 - 21:30 Uhr
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