BERLINER MORGENPOST: Hongkongs zweite Chance / Leitartikel von Michael Backfisch
(ots) - Die Betonköpfe in Peking haben sich verrechnet. Ihr Kalkül: Mit
genügend Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern lassen sich wütende junge
Menschen in Hongkong mundtot machen. Das Feuer der rund sechs Monate andauernden
Unruhen müsse ausgetreten werden, lautete die Devise der kommunistischen Führung
Chinas und ihrer Exekutoren in der Sonderverwaltungszone.
Diese Überlegung ging gründlich schief. Der überwältigende Sieg für die
prodemokratischen Parteien bei den Bezirkswahlen in Hongkong ist ein lautstarkes
Votum der schweigenden Mehrheit. Die Proteste gegen den zunehmenden Einfluss
Chinas in dem politisch und wirtschaftlich vergleichsweise liberalen Hongkong
mögen in den letzten Wochen aus dem Ruder gelaufen sein. Doch bei den Wahlen
gaben Studenten, Bankangestellte, Handwerker und Beamte ihre Stimme für die
Erhaltung von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ab. Es war eine
fulminante Misstrauenserklärung gegen die Verfechter eines autoritären
Bulldozerkurses in Peking.
Die Gouverneurin von Hongkong, Carrie Lam, hat zumindest die richtigen Signale
ausgesandt. Sie versprach, "demütig und ernsthaft" über den Ausgang der Wahlen
nachzudenken. Ein Staat, der über Wochen mit massiver Polizeigewalt gegen seine
Bürger vorgeht, macht etwas falsch. Zumindest, wenn westliche Werte die
Messlatte sind.
Sollte Carrie Lams Ankündigung nicht nur taktisch motiviert, sondern ernst
gemeint sein, bietet sich für Hongkong eine zweite Chance. Lam muss deeskalieren
und Brücken zu den Protestlern bauen. Dialogforen und Gespräche sind der Weg.
Eine Untersuchung der Ausschreitungen, die auf beiden Seiten zu Exzessen geführt
haben, mag ein erster Schritt hierzu sein. Die Demonstranten wiederum müssten
auf Maximalforderungen wie die Unabhängigkeit von Hongkong verzichten.
In der Vergangenheit hatte die Regierungschefin diesen politischen Sensor
vermissen lassen. Zu lange hatte Lam an dem von ihr angestoßenen
Auslieferungsgesetz festgehalten, wonach mutmaßliche Straftäter den chinesischen
Behörden überstellt werden können. Zu spät hat sie den Gesetzentwurf aus dem
Verkehr gezogen.
Die große Frage ist nun, ob Peking bei einer Strategie der Annäherung mitziehen
würde. Es ist der Lackmustest für die Flexibilität von Chinas Führung. Stellt
sich Staatschef Xi Jinping stur und beharrt darauf, dass Hongkong ab 2047 dem
Riesenreich eins zu eins angegliedert wird, werden die Proteste sehr
wahrscheinlich weitergehen. Formaljuristisch hätte er recht, denn 1997 wurde
zwischen der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien und China der Grundsatz
"ein Land, zwei Systeme" vereinbart. Demnach kommt Hongkong nur für eine
50-jährige Übergangszeit in den Genuss relativer Freiheit.
Doch die pulsierende Metropole verdankt ihre Energie auch der Liberalität in
Politik und Wirtschaft. Sie ist Teil der kulturellen DNA der Bevölkerung. Es
wäre daher klug, wenn Peking Hongkong als Oase der Freiheit über 2047 hinaus
erhalten würde.
Profitieren würden am Ende alle. Internationale Unternehmen, die den
chinesischen Markt von Hongkong aus bedienen, sähen keine Veranlassung, zum
Beispiel nach Singapur abzuwandern. Viele westliche Firmen klagen, dass die
Bürokratie in Festland-China nach wie vor eine große Investitionshürde sei.
Zudem betont Peking fortwährend, dass es an einer Win-Win-Situation für die
Weltwirtschaft interessiert ist. Alle Beteiligten sollen zum Zuge kommen, heißt
es. Im Umgang mit Hongkong kann Xi Jinping beweisen, wie ernst diese
Beteuerungen gemeint sind
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Datum: 25.11.2019 - 22:15 Uhr
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