Mittelbayerische Zeitung: Alles auf eine Karte
Die Ukrainer statten die Partei des unerfahrenen Newcomers Selenskyj mit einer absoluten Mehrheit aus. Von Ulrich Krökel
(ots) - Wolodymyr Selenskyj ist im Frühjahr aus dem
TV-Studio an die ukrainische Staatsspitze gestürmt. Um seine Macht
auszubauen, ordnete der Ex-Komiker im Präsidentenamt sofort eine
Neuwahl des Parlaments an. Und siehe da, das Spiel wiederholte sich.
Seine aus dem Nichts geschaffene Partei "Diener des Volkes" setzte
sich innerhalb kürzester Zeit uneinholbar an die Spitze aller
Umfragen. Am Sonntag nun eroberte das Selenskyj-Lager eine absolute
Mehrheit und kann künftig allein regieren. Das gab es noch nie in der
postsowjetischen Ukraine. Die krisenerprobten Ukrainer haben also
nach langen Jahren des Ringens zwischen prorussischen und
prowestlichen Kräften alles auf eine Karte gesetzt, und sie gehen
damit ein hohes Risiko ein. Denn Selenskyj ist nicht nur politisch
völlig unerfahren. Er hat seinen Landsleuten bislang auch kein echtes
Programm vorgelegt, sondern nur Allgemeinplätze verbreitet: Die
allgegenwärtige Korruption wolle er bekämpfen, das Oligarchensystem
aufbrechen und vor allem den Krieg gegen prorussische Separatisten im
Donbass schnellstmöglich beenden. Über das Wie der "Operation
Neustart" hat er sich dagegen ausgeschwiegen. Das Schweigen hatte
zweifellos Methode, denn auf diese Weise wurden Selenskyj und seine
Volksdiener zu einer Projektionsfläche für all die Wünsche,
Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen im Land. Nun aber, so
forderten es gestern fast alle Kommentatoren in Kiew, müsse der
Präsident liefern. Das allerdings ist schlicht unmöglich, wenn man
sich die Herausforderungen einmal genauer ansieht. Im Donbass zum
Beispiel wird Selenskyj den Krieg, der in den vergangenen fünf Jahren
mehr als 13 000 Todesopfer gefordert hat, nur dann beenden können,
wenn der russische Präsident Wladimir Putin mitspielt. Der Kremlchef
hat aber offenkundig nicht das geringste Interesse daran, die Lage in
der Ostukraine zu deeskalieren und das Nachbarland zu stabilisieren.
Im Gegenteil: Putins geopolitisches Credo für die Staaten des
postsowjetischen Raums lautet "Destabilisierung potenzieller
Nato-Kandidaten", insbesondere der Ukraine und Georgiens. Ähnlich
kann man die Problematik auch in der Innenpolitik durchdeklinieren.
Um die berüchtigten Oligarchen zu entmachten, die in Wirtschaft,
Politik und Medien, im Sicherheitsapparat und sogar in Sport und
Kultur bislang an nahezu allen Schalthebeln sitzen, dürfte es künftig
keine falsche Rücksichtnahme mehr geben. Allerdings pflegt Selenskyj
selbst mit dem einen oder anderen Oligarchen enge Freundschaft. Beide
Projekte - Frieden und Oligarchenentmachtung - gleichen also der
Quadratur des Kreises. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das
Experiment Selenskyj kann trotz allem gelingen. Über das wahre Wesen
dieses erst 41 Jahre alten und sichtbar energiegeladenen
Politneulings lässt sich bislang zu wenig Belastbares sagen, um ihn
und seine Absichten verlässlich beurteilen zu können. Es ist durchaus
denkbar, dass er ehrlich nur das Gute für seine Landsleute will und
ihm das Bild einer proeuropäischen, prosperierenden Ukraine
vorschwebt, die mit dem großen Nachbarn Russland friedlich
koexistiert. Allerdings trägt der sanfte Populismus, den Selenskyj
zur Schau stellt, systemische Risiken in sich. Wer allein die ganze
politische Macht in Händen hält, hat eben auch die Macht, diese zu
missbrauchen. Es wäre in der Ukraine leider nicht das erste Mal, dass
ein Präsident sich im Amt vom Hoffnungsträger in einen
Herrschsüchtigen verwandelt. Und Selenskyj hat bereits angekündigt,
die Immunität politischer Gegner im Parlament bei Bedarf mit der
Mehrheit seiner Volksdiener aufheben zu lassen. Das zeugt von wenig
demokratischem Verständnis.
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