Aachener Nachrichten: Kommentar "Schein ist wichtiger als Sein" von Bernd Schneiders
(ots) - Das Ausmaß ist riesig: 3,8 Millionen Dopingmittel
und gefälschte Medikamente wurden sichergestellt, 17 organisierte
Banden enttarnt und 839 Verfahren, davon 463 in Deutschland,
eingeleitet.
Überraschen kann das niemanden: Die Nachfrage ist riesig, dadurch
wird automatisch das Angebot riesig - Marktwirtschaft nennt das der
Ökonom. Nun ist das süchtig machende Bestreben, das dann schnell zur
Sucht wird, den Trainingsfortschritt zu beschleunigen, kein neues
Phänomen. Aber die Dimension ist eine neue.
Demokratisierung der Dopingwelt
Zynisch mag man es die Demokratisierung der Dopingwelt nennen: Es
ist nicht mehr nur den Sport-Eliten vorbehalten, sich Medikamente zu
besorgen, um Kraft, Ausdauer oder Muskelmasse aufzubauen und zu
optimieren. Profis versorgen sich normalerweise über den Arzt ihres
Vertrauens. Breitensportler über den digitalisierten "Dealer": das
Internet. Das agiert länderübergreifend, die internationale
Zusammenarbeit bei der Groß-Razzia ist daher naheliegend. Doch solche
groß angelegten Aktionen der Staatsmacht/mächte mögen ein Schlag sein
gegen die profitierenden Banden und Geschäftsleute. K.o. aber wird
dieses System nur gehen, wenn der Hebel ganz woanders angesetzt wird.
Das Internet ist nicht nur die Plattform, auf der sich die
Dopingwilligen bedienen können. Es ist prägend für den ideologischen
Nährboden, der Einstellungen und Verhaltensweisen formt und vor allem
deformiert.
"Innere" Werte zählen nicht mehr
Wenn Schnelligkeit - diesmal abseits der Messuhren und -Systeme -
zum Nonplusultra, sofortige Verfügbarkeit ein Muss wird, bleiben
Geduld, Ausdauer und Disziplin auf der Strecke. Die
Bedürfnisbefriedigung, etwa der vermeintlich tolle Körper, muss
sofort erfolgen. Sich wochen- oder monatelang zu quälen überfordert
eine auf Tempo und Unmittelbarkeit getrimmte Psyche. Das Körpergefühl
definiert sich über Äußerlichkeiten, "innere" Werte, wie etwa
Funktionalität und gesunde Struktur, zählen nicht mehr in einer Welt,
in der der Schein nicht nur im Sport wichtiger ist als das Sein.
Viele Studiobesucher werden solche zweibeinigen Erscheinungen kennen:
junge Männer, die nach vier Wochen Training plötzlich vor lauter
schwellenden Muskeln nur noch stolzieren statt gehen können, stark
aussehen, aber nicht sind. Kunstfiguren, die einem unrealistischen
und verzerrten Idealbild hinterherhecheln und es wenn, dann nur durch
chemische Mittel erreichen.
Den mentalen Sumpf kann man aber nicht durch moralische Appelle
austrocknen. Änderungen von Einstellungen erfolgen am leichtesten
über Vorbilder. Dass dies viele Profi-Sportler nicht (mehr) sein
können, weil sie selbst zwar nicht auf der Schein- aber der
Leistungslinie zu verbotenen medizinischen Hilfsmitteln greifen, ist
klar.
Der Weg ist das Ziel
Der Auftrag geht in erster Linie an Sportlehrer, Studiobesitzer
und letztlich auch Eltern: Es darf nicht damit getan sein, die
korrekte Handhabung von Fittnessgeräten und Hanteln zu unterrichten.
Sie müssen aufklären über gesundheitliche Risiken, lehren und
vorleben, dass vermeintlich alte Parolen wie "Ohne Schweiß kein
Preis" aktueller denn je sind.
Der Weg ist das Ziel, ob es jetzt die Persönlichkeits- oder die
Körperentwicklung ist. "Operation Viribus" heißt die konzertierte
Aktion gegen den Handel mit Anabolika und gefälschten Medikamenten.
Auch bei der "inneren" Razzia, die nicht nur die "User" der
Dopingmittel für sich selbst durchziehen müssen, gilt: Viribus,
Stärke, ist nur als wahr zu empfinden und anzuerkennen, wenn sie
selbst, ausschließlich aus dem eigenen Körper, den eigenen,
individuellen genetischen Voraussetzungen, entwickelt ist.
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Datum: 09.07.2019 - 18:25 Uhr
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