Mittelbayerische Zeitung: Der gläserne Vorhang
Die Europawahlen haben die Trennlinie zwischen Ost und West erneut aufgezeigt. Von Ulrich Krökel
(ots) - Für die proeuropäische Opposition in Polen
wurde am Sonntag ein Albtraum wahr. Das Ergebnis der rechtsnationalen
PiS bei der Europawahl übertraf alle Prognosen. Die Partei von
Jaroslaw Kaczynski schickt sich nun an, bei der Parlamentswahl im
Herbst ihre Regierungsmacht zu zementieren und sich noch weiter von
der EU abzuwenden. Da half es auch nichts, dass sich die Opposition
zu einer breiten Europa-Koalition zusammengeschlossen hatte. Doch
damit nicht genug. Die Wahlbeteiligung erreichte Rekordniveau. Daraus
lässt sich nur schließen, dass das Ergebnis kein Ausrutscher war,
sondern ein klares Bekenntnis einer Mehrheit der Bürger zum
nationalkonservativen Programm der PiS. Daran ändern auch die hohen
Zustimmungswerte der Polen zur Mitgliedschaft ihres Landes im
"Brüsseler Klub" nichts. Nationalismus und EU-Zufriedenheit scheinen
im Osten des Kontinents problemlos zusammenzugehen. Das zeigt sich
auch in Ungarn, wo Viktor Orbán einen weiteren Triumph feierte. Seit
2010 gewinnt seine rechtsnationale Fidesz-Partei dort eine Wahl nach
der anderen mit absoluter Mehrheit, obwohl auch die Ungarn bekennende
EU-Fans sind. Natürlich spielt es eine Rolle, dass Orbán die Medien
des Landes faktisch gleichgeschaltet hat. Aber man macht es sich zu
einfach, wenn man die Fidesz-Erfolge ausschließlich als Ergebnis
einer illiberalen Indoktrination wertet. Nein, es steckt mehr
dahinter, wie das Beispiel Tschechien zeigt, wo es keine mediale
Gleichschaltung gibt. Dem Land geht es wirtschaftlich prächtig, auch
dank der EU-Strukturhilfen. Dennoch siegte in Tschechien am Sonntag
die populistische ANO des Milliardärs Andrej Babis, der kaum eine
Gelegenheit auslässt, über "die da in Brüssel" herzuziehen. Ein
Rundblick über die EU-Staaten im Osten zeigt, dass sich die Menschen
dort mehr denn je als Europäer zweiter Klasse fühlen. Sie erleben
Jahr für Jahr, dass die Wirtschaft in ihren Ländern deutlich wächst.
Aber der Wohlstand kommt kaum bei ihnen an. Zugleich erliegen die
jungen und bestausgebildeten Menschen im Osten oft dem Lockruf des
Westens. Ungarische Ärztinnen und estnische IT-Spezialisten arbeiten
lieber in Amsterdam oder München als in Veszprem oder Narwa. Aus
solchen Gefühlen der Degradierung erwächst in Osteuropa
nationalistische Politik. PiS-Chef Kaczynski etwa bestritt seinen
EU-Wahlkampf mit einer antideutschen Neidkampagne. Viele Polen,
verkündete er, müssten sich teure deutsche Waschmittel kaufen, weil
dieselben Hersteller den osteuropäischen Markt gezielt mit
schlechteren Produkten belieferten. Tatsächlich boomt in Polen der
Onlinehandel mit original deutschen Reinigungsmitteln. Dabei mag vor
allem der Glaube an die Wirkmacht der Westprodukte eine Rolle
spielen. Doch genau darum geht es ja: um das Empfinden einer
Benachteiligung. Im wiedervereinigten Deutschland sprach man einst
vom Fortbestehen einer "Mauer in den Köpfen". Nicht anders ist es auf
gesamteuropäischer Ebene. Aus dem eisernen Vorhang ist in Europa
längst ein gläserner Vorhang geworden, eine unsichtbare, aber
vorhandene Trennlinie. Fakt ist: Polen, Ungarn, Tschechen und andere
müssen oft zusehen, wie im Westen Europas eine arrogante Politik auf
Kosten des Ostens betrieben wird. Als Stichworte genannt seien nur
Nordstream II oder eine Klimapolitik, bei der etwa den Polen eine
Nutzung ihrer Kohle ebenso "ausgeredet" wird wie ein Einstieg in die
Atomkraft. Stattdessen sollen die Osteuropäer lieber deutsche
Windkraftanlagen kaufen. Dahinter mögen sich umweltpolitisch richtige
Motive verbergen. Wer aber mit Nordstream die europäische Solidarität
unterläuft, kann sie schlecht beim Klima oder in der Flüchtlingsfrage
einfordern.
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