Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Großbritannien/Europawahl:Eine Wutwahl im Königreich von Jochen Wittmann
(ots) - Schon am 23. Mai - denn im Königreich wird
traditionell an einem Donnerstag gewählt - sind die Briten
aufgerufen, ihre 73 Abgeordneten für das Europarlament zu bestimmen.
Es ist eine Wahl, die kaum jemand will. Bei den Bürgern herrscht
blankes Unverständnis. Wir haben doch für den Brexit gestimmt, heißt
es, warum sollen wir da noch in Europa mitmachen? Weil ihr, zumindest
bis zum 31. Oktober, immer noch Mitglied der EU seid, ist die
Antwort, aber das macht die Briten nur noch wütender. "Brexit-Zorn",
konstatierte das Massenblatt "Daily Express" über "die Europawahlen,
die den Steuerzahlern 150 Millionen Pfund kosten". Es wird eine
Wutwahl, das ist sicher, und am härtesten wird es die
Regierungspartei treffen. Schließlich haben die Konservativen das
Brexit-Referendum angesetzt, sich danach zur Partei erklärt, die den
EU-Austritt umsetzen will, und es offensichtlich vermasselt. Schon
bei den Kommunalwahlen Anfang Mai gab es eine schallende Ohrfeige. Am
23. Mai erwartet die Konservativen "ein absoluter Wahl-Tsunami", wie
der Tory und Brexit-Hardliner Mark Francois fürchtet. Viele seiner
Parteikollegen treten einfach in einen Streik und verweigern die
Mithilfe beim Wahlkampf. Geld ist auch keines da. "Es ist verrückt",
sagt Sajjad Karim. "Wir hätten diese Wahl verbissen führen sollen."
Karim, seit 15 Jahren Mitglied des Europaparlaments, ist der
Spitzenkandidat der Konservativen in der Region Nordwest-England. Er
bestreitet den Wahlkampf ohne Personal und finanziert ihn auch
selbst. Seine Partei, klagt er, habe von Anfang an klargemacht, dass
man die Europawahlen nicht wolle und sich nicht engagiert.
Tatsächlich gibt es weder ein Wahlprogramm der Torys, noch eine
Eröffnungsrede der Parteichefin und Premierministerin Theresa May.
Die Strategie der Konservativen scheint zu sein, dass die minimalen
Anstrengungen hinterher der Premierministerin eine Entschuldigung für
die schlechten Resultate liefern sollen. Nach den jüngsten Umfragen
sieht es verheerend aus: Die Regierungspartei käme laut einer
Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov mit neun Prozent auf
den fünften Platz, knapp hinter den Grünen. Die größte
Oppositionspartei Labour dagegen kann von der Malaise der Torys nicht
profitieren. Auch sie trifft der Zorn der Wähler, weil die
Arbeiterpartei keine klare Stellung zum Brexit bezieht. Ihre
offizielle Position ist ein weicher Brexit: Man will das
Referendums-Resultat respektieren, also austreten, aber einen
möglichst engen Schulterschluss mit der EU bewahren. Das stand im
Wahlprogramm, aber die Mehrheit der Partei wie auch ihrer Wähler
wünschen sich eine Rücknahme des Austrittswunsches durch ein zweites
Referendum. Die Liberaldemokraten haben dagegen eine glasklare
Botschaft, wenn auch etwas vulgär ausgedrückt. "Bollocks to Brexit",
etwa: Scheiß auf den Brexit, lautet ihr offizieller Wahlkampfslogan.
Die LibDems erzielen in der YouGov-Umfrage erstaunliche 16 Prozent
und liegen damit vor Labour an zweiter Stelle. Das "Remain"-Lager
derjenigen, die in der EU verbleiben möchten, ist in mehr als ein
halbes Dutzend Parteien zersplittert. Von der neuen Partei "Change
UK", die von abtrünnigen Labour- und Tory-Abgeordneten gegründet
wurde und die eine zentristische Remain-Botschaft verkündet, hatte
man sich einen Durchbruch versprochen. Doch "Change UK" fehlt es an
Basis und Infrastruktur und kommt nur auf fünf Prozent. Die
Zersplitterung der Remain-Stimme erlaubt der "Brexit-Partei" von
Nigel Farage einen Durchmarsch. Farage kann erfolgreich die Stimmen
der Europahasser im Vereinigten Königreich bündeln: Sowohl von seiner
alten Ukip-Partei wie von den Konservativen kommen die Wähler, die
laut YouGov seiner Brexit-Partei mittlerweile stolze 35 Prozent
Stimmanteil verschaffen.
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