Mittelbayerische Zeitung: Eine Wut-Wahl / Die Bürger in der Ukraine haben am Sonntag ihren Protest zu Protokoll gegeben - und einen Comedian zum Präsidenten gewählt. Jetzt stellt sich die Frage: Wie soll es weitergehen?
(ots) - Die ukrainische Politik steht seit langem in
dem Ruf, reich an Absurditäten zu sein. Man denke nur an all die
Prügeleien und Blockaden im Kiewer Parlament oder an den angeblich
von russischen Agenten getöteten Journalisten Arkadi Babtschenko, der
am Tag nach dem "Mord" lachend bei einer Pressekonferenz auftauchte.
Nun aber bekommt das krisengeschüttelte Land einen politisch
vollkommen unerfahrenen Komiker als Präsidenten, und das ist leider
überhaupt nicht mehr lustig. Im Gegenteil: Wolodymyr Selenskyjs
Wahlsieg ist ein Risikofaktor ersten Ranges, und zwar nicht nur für
die Politik in Kiew, sondern für Frieden und Stabilität im Osten
Europas. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass
Wladimir Putin und die Strategen im Kreml bereits diverse Planspiele
durchgegangen sind, wie sie die Wahl eines blutigen Amateurs für ihre
Zwecke nutzen können. Die Palette der Möglichkeiten dürfte dabei von
einem bloßen Warten auf Fehler über gezielte Störmanöver bis hin zu
einer Intensivierung der militärischen Konfrontation im Osten der
Ukraine reichen. Vor diesem Hintergrund kann man nur hoffen, dass
Selenskyj klug genug ist, sich schnellstmöglich mit einem Team aus
erfahrenen Beratern zu umgeben, auch wenn er als Held einer
Anti-Establishment-Kampagne gewählt worden ist. Denn genau darum ging
es bei der Abstimmung: Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben am
Sonntag ihren Protest zu Protokoll gegeben. Sie votierten nur formal
für den 41 Jahre jungen Selenskyj. In Wirklichkeit stimmten sie
voller Zorn gegen die seit drei Jahrzehnten andauernde Herrschaft
einer korrupten Oligarchen-Clique, deren postsowjetische Netzwerke
das Land und seine Institutionen durchziehen wie ein Krebsgeschwür.
So gesehen kommt das Ergebnis dieser Wut-Wahl einem dritten
Umsturzversuch nach der Revolution in Orange von 2004 und der
Maidan-Erhebung von 2014 gleich. In diesem Sinn kann man sich als
Demokrat über die freiheitliche Gesinnung der Menschen in der Ukraine
sogar freuen. Aber auch nur in diesem Sinn, denn von demokratischer
Reife zeugt es nicht, einen Mann zu wählen, der sich jeder
ernsthaften Auseinandersetzung entzieht. Selenskyj hat es mit seinem
inhaltsleeren Wahlkampf geschafft, sich als Projektionsfläche für
alle möglichen Sehnsüchte anzubieten, die es in einem
krisengeschüttelten Land naturgemäß zuhauf gibt. Die
nationalukrainischen Patrioten im Westen des Landes wählten ihn
ebenso wie die Slawophilen im russischsprachigen Osten. Völlig offen
aber ist die Frage: Was kommt jetzt? Deutlicher formuliert: Was will
dieser Clown eigentlich? Das naheliegende Szenario ist, dass
Selenskyj mit dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj einen neuen
ökonomisch-politisch-medialen Komplex bildet. Es wäre die Fortsetzung
der ukrainischen Oligarchie mit anderen Mitteln und einem
unverbrauchten Gesicht an der Spitze. Zugleich wäre es das bitterste
Szenario für die Menschen in der Ukraine, die noch immer auf einen
echten Neuanfang hoffen. Das aber heißt auch: Wenn die EU dieses Land
mit seinen Demokraten nicht verlieren will, sollte sie ihre
Aktivitäten in der Region schnellstmöglich intensivieren und der
Ukraine eine echte Beitrittsperspektive eröffnen. Selenskyj hat sich
zu einem proeuropäischen Kurs bekannt. Die Verantwortlichen in
Brüssel, Berlin und Paris sollten ihn beim Wort nehmen. Und sie
sollten endlich daraus lernen, was sie in der Zusammenarbeit mit
Petro Poroschenko falsch gemacht haben. Gute Worte, etwas mehr Geld
und Visaerleichterungen reichen nicht aus, wenn man zugleich dem
geostrategisch viel bedeutsameren Bau einer Ostseepipeline mit
Russland zustimmt, wie die Bundesregierung dies getan hat. Dieses
unsägliche Lavieren muss ein Ende haben.
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Datum: 22.04.2019 - 19:21 Uhr
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