BERLINER MORGENPOST: Das Volk hat dazugelernt / Leitartikel von Martin Gehlen zu Sudan und Algerien
(ots) - Kurzform: Der Arabische Frühling 2.0 dieser Tage
kann nicht auf schnelle Erfolge setzen. Die Verteidiger der alten
Regime spielen auf Zeit. Im Sudan pocht der Militärrat auf eine
Übergangsperiode von zwei Jahren, wohl wissend, dass der Elan der
Demonstranten irgendwann auf der Strecke bleiben muss. Algerien führt
jetzt ein alter Regime-Apparatschik, der seine Polizei vergangenen
Freitag zum ersten Mal mit voller Macht dreinknüppeln ließ. Die
Demonstranten in Sudan und Algerien sind also gewarnt. Sie brauchen
enorme Disziplin und langen Atem. Und die eigentliche Machtprobe
steht ihnen noch bevor.
Der vollständige Leitartikel: Ein Jahr nach dem Arabischen
Frühling 2011 war der französische Islamwissenschaftler Gillel Kepel
in Kairo auf eine Hochzeit eingeladen. Die opulente Gästeschar
stammte samt und sonders aus den Kreisen der "Felul", der alten Elite
des früheren Machthabers Mubarak. Zu seiner Verblüffung fand der
Besucher aus Paris die Festgemeinde in bester Stimmung vor. In einem
Jahr haben wir die Macht zurück, prosteten sich die ehemaligen
Regimekader zu. Und tatsächlich, im Juli 2013 setzte Armeechef Abdel
Fattah al-Sisi dann mit seinem Putsch allen demokratischen Hoffnungen
am Nil ein jähes Ende. Im Mai will er sich nun per
Verfassungsänderung als Präsident auf Lebenszeit installieren lassen,
bis zu seinem 80. Geburtstag. Dem Sisi-hörigen Hurra-Parlament jedoch
scheinen dieser Tage erste Zweifel zu kommen. Denn Sudan und
Algerien, das könnte auch in Ägypten wieder Schule machen. Beide
Autokraten, Omar al-Bashir und Abdelaziz Bouteflika, mussten kurz
hintereinander dem friedlichen Druck ihrer Völker weichen und
verlängern nun die Riege der nach 2011 gestürzten arabischen
Langzeitdiktatoren. Und in beiden Nationen war es am Ende das
Militär, das sich gegenüber den angezählten Potentaten als
Vollstrecker des Volkswillens inszenierte. Die frustrierten
Landsleute hingegen ließ das völlig unbeeindruckt, deren Proteste
gehen unvermindert weiter. Denn 2019 ist nicht mehr 2011. Beide
Seiten - Regime und Volk - haben dazugelernt. Die Regime wissen seit
Syrien, Libyen und Jemen: Wer sich dem überkochenden Volkszorn mit
Waffengewalt entgegenstellt, legt am Ende seine ganze Nation in
Schutt und Asche. Und die Bevölkerung weiß: Wenn man nur den
Chefdespoten davonjagt und den übrigen Apparat aus Generälen und
Wirtschaftsbossen unangetastet lässt, sind die alten Verhältnisse
schnell wieder zurück. Entweder wir siegen, oder wir werden wie
Ägypten, skandieren die Demonstranten in der sudanesischen Hauptstadt
Khartum, die am Wochenende auch den neuen Junta-Chef und den alten
Geheimdienstchef davonjagten. In Algerien verhinderte bisher eine
Handvoll Importbarone in Generalsuniform, dass eine nennenswerte
Industrie entstand, die dem Nachwuchs Perspektiven und Arbeit geben
könnte. Regimegünstlinge plünderten die ölgefüllte Staatskasse und
schotteten ihr Land ab, um sich jede Kritik und jede Konkurrenz von
außen vom Hals zu halten. Zudem lehrt das Beispiel Tunesien, des
einzigen Überlebenden der ersten Arabellion von 2011, wie dornig der
Weg zu einem wirklichen Systemwechsel ist. Bestenfalls erreicht hat
die nordafrikanische Nation bisher ein demokratisch-autoritäres
Hybridsystem. Auf der einen Seite gibt es freie Wahlen, offene
Diskussionen und ein reges Treiben der Zivilgesellschaft. Auf der
anderen Seite knüpfen die alten Seilschaften wieder unbehelligt ihre
Strippen. Sie dominieren die Medien, verteidigen ihre
wirtschaftlichen Privilegien und wollen die Staatsverbrechen der
Diktatur möglichst unter den Teppich kehren. Der Arabische Frühling
2.0 dieser Tage kann also nicht auf schnelle Erfolge setzen. Die
Verteidiger der alten Regime spielen auf Zeit. Im Sudan pocht der
Militärrat auf eine Übergangsperiode von zwei Jahren, wohl wissend,
dass der Elan der Demonstranten irgendwann auf der Strecke bleiben
muss. Algerien führt jetzt ein alter Regime-Apparatschik, der seine
Polizei vergangenen Freitag zum ersten Mal mit voller Macht
dreinknüppeln ließ. Die Demonstranten in Sudan und Algerien sind also
gewarnt. Sie brauchen enorme Disziplin und langen Atem. Und die
eigentliche Machtprobe steht ihnen noch bevor.
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Datum: 14.04.2019 - 19:58 Uhr
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