Mittelbayerische Zeitung: In der Brexit-Endlosschleife/Die erneute Verschiebung des EU-Austritts Großbritanniens wird Auswirkungen auf das neue Parlament haben.Von Dr. Daniela Weingärtner
(ots) - Eine Zeitlang sah es so aus, als sei die
Europäische Union während des Brexit-Dramas ein bisschen erwachsener
geworden. Ruhig, maßvoll und gestützt auf ein einstimmiges Mandat
arbeitete Verhandlungsführer Michel Barnier Kapitel für Kapitel des
Austrittsvertrags ab. Während Regierung und Unterhaus in London ein
zunehmend absurdes Schauspiel aufführten, behielten die
Kontinentaleuropäer einen klaren Kopf. Ihre Botschaft lautete: Was
immer passieren mag - wir sind gut vorbereitet. Spätestens seit
gestern wissen wir, dass die EU-27 den abfedernden Maßnahmen ihrer
Brüsseler Verwaltung nicht traut. Resteuropa hat mindestens so viel
Angst vor den unabsehbaren Folgen eines ungeregelten Brexit wie die
Briten selbst. Man nimmt es lieber in Kauf, eine zur "Schicksalswahl
gegen Rechts" hochstilisierte Europawahl ad absurdum zu führen und
die europäischen Geschäfte auf unabsehbare Zeit zu lähmen, als die
eigenen Beschlüsse durchzusetzen und ein Ende mit Schrecken zu
riskieren. Der 31. Oktober ist ein völlig willkürlich gewähltes
Austrittsdatum. Es befindet sich irgendwo in der Mitte zwischen
Emmanuel Macrons Wunsch, zur Wahl Ende Mai die Briten los zu sein,
und Ratspräsident Donald Tusks Begehr, sie am liebsten für immer in
der Union zu halten. Er hatte den Briten einen Blankoscheck
ausstellen wollen, auf dem sie das Austrittsdatum erst dann
eintragen, wenn sie sich bereit fühlen. Das immerhin hat Macron
verhindert. Nachdem allerdings in der Nacht zu Donnerstag der Rat so
massiv einknickte, haben Fristen ohnehin ihre Verbindlichkeit
verloren. Wenn nicht einmal mehr die Europawahl ein unüberwindliches
Hindernis für Verlängerungen darstellt, ist es die Amtsübernahme des
neuen Kommissionspräsidenten am 1. November ganz sicher nicht. Bis
dahin sind ja wesentliche Entscheidungen längst getroffen - unter
britischer Beteiligung. Zwar kann der Rat den Kommissionspräsidenten
mit qualifizierter Mehrheit auch ohne britische Zustimmung ernennen,
wie nach der langen Sitzung alle nicht müde wurden zu betonen. Wie
die ebenfalls erforderliche Parlamentsmehrheit zustande kommen soll,
daran aber verschwendeten die Chefs offensichtlich keinen Gedanken.
Nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit wird Theresa Mays Regierung
Ende Mai abgestraft. Enttäuschte Brexit-Befürworter werden sich der
UK-Independance-Party (UKIP) zuwenden, die als einzige den sofortigen
Austritt verspricht. Alle anderen wandern wohl zu Labour. Mit 73
Abgeordneten stellen die Briten fast zehn Prozent des neuen
Parlaments. Ihre Stimmen fallen ins Gewicht und werden die
Mehrheitsverhältnisse zu Ungunsten des konservativen
Spitzenkandidaten Manfred Weber verschieben. Sein
sozialdemokratischer Konkurrent Frans Timmermans kann sich nun
größere Hoffnungen machen. Noch wahrscheinlicher aber ist, dass die
EU-Regierungen das Parlamentsvotum mit Verweis auf die provisorische
Zusammensetzung des Hauses gleich ganz zur Seite schieben. Als
Emmanuel Macron in der Nacht das Ratsgebäude verließ, inszenierte er
sich als heimlichen Sieger der Sitzung, der es geschafft habe, den
Willen der britischen Wähler zu achten und eine Lähmung der EU zu
verhindern. In Wahrheit wurde das Gegenteil erreicht. Drei Jahre nach
dem Referendum dürften sich Austrittsbefürworter wie -gegner nur noch
verschaukelt fühlen. Die EU wird weitere Monate in der
Brexit-Endlosschleife verharren. Den Nebeneffekt, der ihm selbst gut
zupasskommt, erwähnte Macron nicht: Er wollte von Anfang an
verhindern, dass das Parlament bei der Wahl des
Kommissionspräsidenten das letzte Wort hat. Dieses Ziel zumindest
dürfte mit der neuerlichen Brexit-Vertagung erreicht sein.
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