Mittelbayerische Zeitung: Europa ist wie betäubt / Die Politik kann nicht alleine die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer lösen. Ein Schlüssel liegt in unserem fehlenden Mitgefühl. Von Julius Müller-Meiningen
(ots) - Es gibt in diesen Tagen ein Gesicht, das für
allerlei Projektionen taugt. Für die einen ist der italienische
Innenminister Matteo Salvini das Ungeheuer, das Flüchtlingen die
Landung in den Häfen seines Landes verwehrt und somit dazu beiträgt,
dass wieder Dutzende Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Für
andere macht der Chef der rechten Lega genau das Richtige: Er lässt
mit Flüchtlingen beladene Schiffe nicht in italienische Häfen
einlaufen und garantiert auf diese Weise die innere Sicherheit nicht
nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern der EU. Die
verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Figur Salvini werfen
eine Frage auf: Ist es wirklich nur die Verantwortung der Politik,
dass das Sterben im Mittelmeer kein Ende nimmt? Am vergangenen
Wochenende ertranken nach Angaben von Hilfsorganisationen 170
Flüchtlinge auf sinkenden Schiffen. Politik, zumindest in den meisten
westlichen Staaten, ist oft der schlichte Ausdruck eines allgemeinen
Bedürfnisses. In Italien stimmten 17 Prozent der Wähler bei den
Parlamentswahlen für Salvini, heute käme seine Partei sogar auf 36
Prozent. Viele Italiener, die die Lega nicht wählen würden, heißen
die Blockade-Politik der Regierung aber gut. Insofern geht die
knallharte Flüchtlingspolitik gar nicht am Willen vieler Menschen
vorbei, sie ist schlicht ihr Ausdruck. In Italien ist diese Politik
derzeit mehrheitsfähig. Wenn sich der Fokus schärft, wird es
komplizierter. Das geschieht zum Beispiel, wenn Fotos ertrunkener
Babys in den Medien kursieren. Das fühlt sich schlimmer an, als wenn
man nur schwarz auf weiß liest: Am Wochenende kamen unter den 170
Personen auch eine schwangere Frau und ein zwölf Monate altes
Kleinkind ums Leben. Details über herzzerreißende Telefonate
Ertrinkender werden publik und rühren an die Gewissen derjenigen, die
in Sicherheit sind. Aber meistens ist das nicht der Fall. Wenn
überhaupt, schüttelt man kurz betroffen den Kopf - und macht da
weiter, wo man aufgehört hat. Darin besteht das größte Problem. Viele
von uns sind unfähig geworden, sich aktiv dem existenziellen und
offensichtlichen Leid anderer zuzuwenden. Wir wollen uns nicht in die
Lage der Menschen auf dem Meer, deren Existenz konkret auf dem Spiel
steht, oder in deren Angehörige versetzen. Es ist bequemer, andere
Gedanken vorzuziehen. Etwa, dass die Blockadepolitik letztendlich
sogar Hilfe für alle bedeuten könnte. Durch sie werden weitere
Flüchtlinge abgeschreckt und irgendwann muss niemand mehr sterben und
niemand mehr über dieses Problem nachdenken, so lautet das Kalkül.
Doch so funktioniert es nicht. Die Flüchtlinge wagen trotzdem die
Überfahrt, vielleicht weil sie schlecht informiert sind oder
verzweifelt. Tatsache ist, sie kommen. Dem letzten im Mittelmeer
verbliebenen Rettungsboot (der deutschen Hilfsorganisation Sea Watch)
kann man dafür nicht die Schuld zuschieben. Libyen, das Land, aus dem
immer noch die meisten Flüchtlinge ablegen, ist ein failed state.
Historisch gesehen ist die Ausbeutung Afrikas in der Kolonialzeit mit
Folgen bis heute nicht zu leugnen, sie schreitet inzwischen in
anderer Form voran. Natürlich tragen auch die Afrikaner, Regierungen
und Regimes des Kontinents, Verantwortung für den Zustand, der
Menschen zur Flucht motiviert. Aber haben wir als Einzelne mit diesem
komplexen Problem wirklich nichts zu tun? Unsere meist nur kurze,
aber manchmal doch tiefe Betroffenheit weist uns darauf hin, dass wir
selbst Teil der Misere sind. Was also tun? Natürlich ist es ein
Irrglauben zu denken, es habe keine umwälzenden Folgen, wenn
europäische Staaten unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen würden. Die
Steuerung von Zuwanderung ist notwendig, ebenso wie Politik als
Delegierung von Macht notwendig ist. Im Fall der ertrinkenden
Flüchtlinge liegt einer der Schlüssel in unserem fehlenden Mitgefühl.
Meist reagieren wir wie betäubt auf das hundertfache Leid, das sich
vor unserer Haustüre abspielt. Erst wenn wir diese Betäubung ernst
nehmen und ihren Kontext erkennen, kann das Sterben im Mittelmeer
langsam ein Ende nehmen.
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