Landeszeitung Lüneburg: Das Chaos vertieft die Spaltung
Brexit-Experte Nicolai von Ondarza: May ist nach ihrem Phyrrussieg so geschwächt, dass ein zweites Votum möglich erscheint
(ots) - Von Joachim Zießler
Margaret Thatcher musste nach einem knapp gewonnenen
Misstrauensvotum gehen. Ein Schicksal, das Theresa May zwar nicht
droht, aber 117 Widersacher in der eigenen Fraktion machen das
Unterhaus zur nicht überwindbaren Hürde für den Brexit-Deal. Wird sie
nun versuchen, die EU mit einem No-Deal-Szenario zu erweichen oder
die Brexiteers mit einem No-Brexit-Szenario?
Dr. Nicolai von Ondarza: May hat bei dem Misstrauensvotum einen
klassischen Phyrrussieg errungen. Zwar kann sie Premierministerin
bleiben, aber ihr fehlt die Mehrheit im Parlament. Rechnerisch hat
nur mit der nordirischen DUP eine Mehrheit von 12 Abgeordneten. Wenn
aber die 10 DUP-Vertreter und 117 ihrer eigenen Tories May die
Gefolgschaft verweigern, wird sie auch mit allen parlamentarischen
Tricks das Austrittsabkommen nicht durch das Parlament bekommen. Vor
einem No-Deal Szenario aber haben die Brexiteers keine Angst, manche
wünschen es sogar. Ihre beste Option ist es daher, kosmetische
Änderungen mit der EU aushandeln und das Abkommen zum spät
möglichsten Zeitpunkt - und dann maximalen Druck - zur Abstimmung
vorzulegen. Alternativ bleibt sonst nur der ungeordnete Brexit - oder
ein zweites Referendum.
Sind die harten Brexit-Anhänger die noch schlechteren Strategen
als May, unfähig, die eigenen Anhänger zu zählen?
Die Gegner von May wussten, dass sie das Misstrauensvotum
wahrscheinlich nicht gewinnen würden. Aber sie haben May empfindlich
geschwächt, ein Zeichen gesetzt, dass sie dieses Abkommen nicht durch
das Parlament bringen kann und ihr das Versprechen abgerungen, vor
den nächsten Wahlen ihren Posten zu räumen.
Bläst May am Ende den Brexit mit dem EuGH-Urteil im Rücken einfach
ab? Schließlich war sie ursprünglich dagegen.
May wird von sich aus den Brexit nie rückgängig machen, es ist das
definierende Projekt ihrer Amtszeit. Aber wenn das britische
Parlament weiter so blockiert ist, könnten Neuwahlen und/oder ein
zweites Referendum der letzte Ausweg sein.
Der Brexit spaltet Tories wie Labour. Wird Großbritannien den
Spalt je kitten können, egal, ob es einen Hard Brexit oder No Brexit
gibt?
Ich glaube mittlerweile, dass der Brexit die Briten noch viele
Jahre, wenn nicht Jahrzehnte beschäftigen wird. Spricht man derzeit
mit Briten, identifizieren sich diese eher als "Remainer" oder
"Leaver" denn als Anhänger der Tories oder von Labour. Der Riss durch
die Gesellschaft ist so tief, dass - völlig unabhängig, welche
kurzfristige Lösung für die aktuelle Krise gefunden wird -, das Land
noch sehr lange brauchen wird, um die Folgen dieser massiven
Polarisierung zu überwinden.
Bei der nun verschobenen Abstimmung im Unterhaus war eine
Niederlage für Theresa May sicher. Wird die EU irgendetwas anbieten,
was May daheim Zuspruch bringen wird?
Ich kann mir da nichts Substanzielles vorstellen. Denn die Kritik
im Unterhaus kam aus allen Lagern: Die Brexit-Befürworter
kritisierten vor allem die Backstop-Regelung, die das Königreich de
facto in der Zollunion belassen würde, damit es keine harte Grenze
auf der irischen Insel gibt. Sie drängen auf einen sehr viel
schnelleren Brexit. Widerstand kam aber auch von den Brexit-Gegnern,
die dagegen sind, dass das Abkommen Großbritannien nur eine Art
Satellitenstatus ohne Mitspracherechte zubilligen würde. Sie
bevorzugen die Beibehaltung der Mitgliedschaft und versprechen sich
vom Sturz der Regierung May ein zweites Referendum. Angesichts so
widersprüchlicher Interessen in London hätte die EU, selbst wenn sie
es wollte, keinen Ansatzpunkt, um May durch Zugeständnisse zu einer
Mehrheit im Unterhaus zu verhelfen. Zudem ist der in Großbritannien
am stärksten kritisierte Punkt, die Backstop-Regelung zur Sicherung
offener Grenzen in Nordirland, so fundamental für die EU-27, dass sie
hier kaum bereit sein werden, dem Königreich entgegenzukommen. Nicht
zuletzt, weil jeder, der die 117 Gegenstimmen in Mays eigener
Fraktion registriert hat, sehen muss dass die Regierung May jegliche
Glaubwürdigkeit im Parlament verloren hat - und also kein
Verhandlungspartner mehr ist, von dem man erwarten kann, dass er die
Verhandlungsergebnisse auch noch umsetzen wird.
Wie viele Realitätsschocks brauchen die Brexiteers noch, um zu
begreifen, dass genau dieser Punkt für den Kontinent nicht
verhandelbar ist? Wieso spielen die Erinnerungen an die Tausenden
Toten der "Troubles" vor dem Karfreitagsabkommen vor gerade einmal 20
Jahren keine Rolle?
Man sieht gerade an der Debatte um den Backstop, wie
unterschiedlich die Wahrnehmungsrealitäten in Großbritannien sind.
Viele Brexiteers glauben, dass Großbritannien einen ungeordneten
Brexit gut überstehen könnte und dass der Backstop lediglich ein
Instrument der EU sei, um die Insel an den Kontinent zu ketten. Diese
ganz andere Wahrnehmung des Konfliktes in Nordirland und des Brexits
macht eine Vermittlung so unglaublich schwierig.
Nach Mays stümperhaftem Schachzug, Neuwahlen auszurufen, sprach
man schon vom Dead Woman Walking. Konnte sie nur alle in Schach
halten, weil niemand ihren Job zu diesem Zeitpunkt haben will?
Irgendjemand will immer Premierminister werden - Boris Johnson
wäre so einer. Aber zwei Aspekte sprachen für sie: Erstens gibt es
niemanden in der Konservativen Partei, der die verschiedenen Flügel
der Partei so zusammenhalten kann wie sie. Es fehlt ein natürlicher
Nachfolger. Und zweitens hat sie alle schwierigen Entscheidungen und
notwendigen Konfrontationen im Brexit-Prozess stetig in die Zukunft
verschoben. Jetzt hat sie aber mit dieser Taktik das Ende der
Fahnenstange erreicht. Wenn die Briten am 29. März nicht ungeordnet
die EU verlassen wollen, müssen sie vorher eine Entscheidung
erzwingen.
Der Europäische Gerichtshof hat Theresa May ein unerwartetes
Druckmittel in die Hand gegeben: die Möglichkeit, den Brexit einfach
abzublasen. Wird sie damit ihre Gegner einschüchtern können?
Nein. Dazu wirkt die demokratische Macht des Referendums in
Großbritannien zu stark. Ohne ein zweites Referendum wird es keinen
Exit vom Brexit geben. Diese zweite Abstimmung ist aber durchaus in
den Bereich des Möglichen gerückt. Das Unterhaus ist politisch derart
blockiert, dass weder Theresa Mays Deal noch ein ungeordneter Brexit
oder ein Exit vom Brexit eine Mehrheit erhalten könnte. Hält die
Blockade weiter an, dürfte der einzige Ausweg sein, die Frage wieder
an das Volk zurückzugeben und ein zweites Referendum abzuhalten. Und
da eröffnet die Entscheidung des EuGH die Option, auch den Verbleib
in der EU wieder zur Debatte zu stellen.
Unfaire Frage: Welches ist das wahrscheinlichste Szenario nach
einer Niederlage Mays im Unterhaus: Neuwahlen, zweites Referendum,
harter Brexit, Absage des Brexit?
Jeder, der jetzt bereits weiß, wie der Brexit ausgeht, muss ein
Magier sein. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die
Wahrscheinlichkeit eines zweiten Referendums deutlich gestiegen ist.
Zu viele Abgeordnete haben sich glasklar gegen das ausgehandelte
Austrittsabkommen ausgesprochen, als dass es noch eine Chance hätte,
das Unterhaus zu passieren. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass
das Unterhaus mehrheitlich auch keinen "No-Deal-Brexit" durchwinken
wird. Neuwahlen oder ein zweites Referendum scheinen die Optionen zu
sein, die die britische Politik noch am ehesten verkraften könnte, so
schmerzhaft dies auch wäre.
Wären Neuwahlen eine Chance für die Liberalen, die als einzige
Partei eine klare Haltung zum Brexit haben, sie sind für den Verbleib
in der EU?
Was dennoch nach wie vor gegen die Liberalen spricht, ist das
brutale britische Wahlsystem, nach dem in den einzelnen Wahlkreisen
nur die Mehrheit zählt. So erhielt bei den letzten Wahlen Ukip trotz
über vier Millionen Stimmen nur einen einzigen Abgeordneten. Auch bei
Neuwahlen würde das britische Wahlsystem daher erneut die
Konfrontation zwischen Labour und den Konservativen erzwingen, obwohl
sich viele Wähler gerade in Sachen Brexit durch die großen Parteien
nicht mehr repräsentiert fühlen.
Wird der Brexit einst in Politologie-Lehrbüchern als
Musterbeispiel stehen, wie falsche Versprechungen und naive
Fehlurteile ein stabiles Land in eine Verfassungskrise stürzen
konnten?
Vor allem wird er als Lehrbeispiel genannt werden, wie
unrealistische Versprechungen und das Aufstellen unrealistischer
roter Linien vor Verhandlungen eine Regierung kollabieren ließen.
Statt nach dem Referendum ehrlich zu vermitteln, dass der Brexit nur
mit hohen Kosten zu erlangen ist, hat Theresa May noch bis vor
wenigen Wochen blühende Landschaften versprochen. Statt wie
versprochen das Beste beider Welten behalten zu können, müssen die
Briten nun erkennen, dass sie nur Dank großer Zugeständnisse noch
einen gewissen Zugang zum Binnenmarkt erhalten können, und dass
selbst ein großes Land wie das Königreich gegenüber der EU am
kürzeren Hebel sitzt.
Es fehlte ein Churchill, der die Größe für eine
"Blut-und-Tränen"-Rede hatte...
Stattdessen hat May nach der Übernahme des Amtes der
Premierministerin gesagt, dass die besten Zeiten noch vor
Großbritannien lägen, dass es als "Global Britain" all die Ketten der
EU loswürde. Die jetzt erkennbaren Nachteile sind nicht vereinbar mit
den Versprechungen der Brexiteers.
Am Wochenende marschierten rechtsradikale Brexit-Anhänger durch
London, Tausende Labour-Anhänger hielten dagegen. Wie gefährlich ist
die Brexit-Krise für die britische Demokratie?
Wir erleben eine sehr essentielle Krise der britischen Demokratie.
Das politische System baut auf der Parlamentssouveränität auf, das
heißt, letztlich ist das Parlament der Souverän, nicht das Volk.
Deswegen war das Referendum zwar rechtlich unverbindlich, hat aber
eine solche Bindewirkung entfacht, dass es das gesamte System
erschüttert hat. Schon jetzt im Angesicht eines möglichen zweiten
Referendums existiert unter Brexiteers bereits das Erklärungsmuster
einer Dolchstoßlegende. Selbst wenn jetzt das Abkommen angenommen
würde, wäre ihre Argumentation, dass das Volk des wahren Brexits
beraubt worden wäre. Es wird sehr schwierig werden, die Gräben
zwischen der Elite in Westminister und dem Volk zuzuschütten.
Letztlich wurzelt der Brexit auch ganz stark in einem Misstrauen der
Bürger gegenüber ihrer eigenen Elite. Und dieses Misstrauen wächst in
dem aktuellen Chaos.
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Werner Kolbe
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Datum: 13.12.2018 - 18:17 Uhr
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