Aachener Nachrichten: Kommentar:
Welches Europa wollen wir?
Die Europawahl 2019 wird ein Schlüsselereignis für die Zukunft der Gemeinschaft
Von Christian Rein
(ots) - Europaskeptiker, Anti-Europäer, Nationalisten im
Europäischen Parlament. Das klingt paradox. Denn warum sollten
ausgerechnet diejenigen, die die EU am liebsten abschaffen wollen, in
das Herz der Gemeinschaft, nämlich das Straßburger Parlament,
gelangen wollen? Die Antwort darauf ist so einfach wie
niederträchtig: Sie wollen die EU von innen heraus zerstören. Längst
sind sie in den Fraktionen "Europa der Freiheit und der direkten
Demokratie" (EFDD) und "Europäische Konservative und Reformer" (EKR)
etabliert, versammeln unter anderem Vertreter der deutschen AfD, der
britischen UK Independence Party (UKIP), der italienischen
Fünf-Sterne-Bewegung oder des französischen Rassemblement National
unter ihren Dächern.
Schon bei der Europawahl 2014 haben die Rechtspopulisten so
massiven Zuwachs erhalten wie außer ihnen nur die linksextremen
Parteien. Die etablierten Parteien, Christ- und Sozialdemokraten,
Liberale und Grüne, haben verloren. Dass dieser Trend sich bei der
nächsten Europawahl noch mal verschärft, steht zu befürchten.
Deshalb wird die Abstimmung in 200 Tagen, am 26. Mai, eine
Schicksalswahl für die EU: Wird die Gemeinschaft weiter geschwächt
oder gibt es eine Gegenbewegung?
"Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch
nicht durch eine einfache Zusammenfassung", hat der damalige
französische Außenminister und Europa-Vordenker Robert Schuman in
seiner berühmten Erklärung vom 9. Mai 1950 gesagt. "Es wird durch
konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat
schaffen."
Von dieser Solidarität der Tat ist derzeit nicht viel zu sehen.
Der Umgang mit Flüchtlingen ist ein Paradebeispiel für die
Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, eine solidarische Antwort auf
drängende gesellschaftliche Fragen zu finden. Wertegemeinschaft? Weit
gefehlt. Der größte gemeinsame Nenner scheint die Einigkeit darüber
zu sein, dass man sich nicht einig ist.
Die rechtspopulistische Regierung Italiens fordert die EU mit
einem Haushaltsentwurf heraus, der sämtliche Regeln der Gemeinschaft
über Bord wirft und Sorgen vor der nächsten Euro-Schuldenkrise
schürt. Die rechtskonservative Regierung in Polen provoziert mit
ihrer höchst umstrittenen Justizreform ein
Vertragsverletzungsverfahren. Der ungarische Nationalist Viktor Orbán
muss sich einem Strafverfahren des EU-Parlaments wegen
Rechtsstaatsverstößen stellen. Die britische Regierung will die
Gemeinschaft gleich ganz verlassen - aber zu ihren Bedingungen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron die Menschen mit seinem entschiedenen und emotionalen
Bekenntnis zu Europa aufhorchen lassen. Er hat gezeigt: Man kann eine
Wahl mit einer dezidiert pro-europäischen Agenda gewinnen. Macron
könnte eine Schlüsselfigur sein, wenn die EU wieder mehr zu einem
Europa in Schumans Sinn werden soll. Seine Reform-Agenda enthält
viele Vorschläge, die die EU voranbringen können. Dafür braucht er
Unterstützung vor allem aus Deutschland. Denn das derzeit etwas
indisponierte Bild der Gemeinschaft hängt auch mit dem aktuell
unrunden Zusammenspiel zwischen Paris und Berlin zusammen.
Die kommenden Monate werden zeigen, welche Richtung die
Gemeinschaft einschlägt und ob sie dazu in der Lage ist, sich
zukunftsgerichtet aufzustellen. Ob sie Lösungen finden, Zusammenhalt
erzeugen, Begeisterung wecken und die Angriffe auf ihre Prinzipien -
Solidarität, Freiheit, Rechtstaatlichkeit - abwehren kann. Die
Europawahl 2019 ist dafür eine wichtige Wegmarke.
Entscheidend wird dabei auch die Wahlbeteiligung sein. 2014 lag
sie in Deutschland bei gerade mal 47,9 Prozent, EU-weit sogar nur bei
42,54 Prozent. Klar ist: Eine geringe Beteiligung wirkt für die
EU-Gegner wie ein Katalysator, eine hohe Beteiligung stärkt hingegen
integrative Kräfte.
Welches Europa wollen wir? Diese Frage richtet sich also zu
allererst nicht an die Politik, sondern an jeden einzelnen von uns.
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Datum: 06.11.2018 - 21:13 Uhr
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