Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Deutschland und die Türkei
(ots) - Wenn Kanzler und Minister zu Zeiten der Bonner
Republik in den Ostblock reisten, führten sie stets eine vertrauliche
Liste mit den Namen von zwölf bis 20 politischen Häftlingen mit, für
deren Freilassung sie sich einsetzten. Vorige Woche hatte
Außenminister Heiko Maas (SPD) ein ähnliches Schreiben mit sieben
Namen dabei, als er den türkischen Staatspräsident Recep Tayyip
Erdogan und den Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu traf. Das Feilschen um
Menschen ist beschämend - allerdings allein für den Gastgeber.
Erdogan, der bis zum Hals in Problemen steckt, sollte es nicht bis
zum nächsten Schritt bundesrepublikanischer Diplomatenkunst kommen
lassen, dem Freikauf von Gefangenen. Nichts ist gut im Verhältnis
zwischen Deutschland und der Türkei - und auch dieser recht stille
Besuch hat noch keine erkennbaren Fortschritte gebracht. Dennoch war
die Visite ein Anfang und mit Erdogans Deutschlandreise Ende
September sowie einer anschließenden Visite von Wirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU) wird die heikle Mission der Normalisierung
weitergehen. Nach Erdogans beleidigenden Nazi-Vergleichen, den
Massenverhaftungen und Menschenrechtsverstößen ist der
Gernegroß-Pascha in der Defensive. Auf dem Weg in die
Präsidialdiktatur hat er es sich nicht nur mit den wohlwollenden
Deutschen, sondern auch mit so unberechenbaren Größen wie Wladimir
Putin und Donald Trump verscherzt. Aus der selbst verschuldeten
schweren Wirtschaftskrise wird er nur mit Demut und weniger
nationalem Getöse herausfinden. Es sind Eigenschaften gefordert, an
denen es Erdogan mangelt. Der rasante Verfall der türkischen Lira,
die nichts anderes als die Enteignung der Wählerschaft bedeutet, ist
sein vorrangiges Problem. Selbst im hintersten Anatolien dürfte die
Erkenntnis reifen, dass nicht böse ausländische Mächte, sondern die
Dilettanten in der Staatsführung neue Armut und Arbeitslosigkeit zu
verantworten haben. Auch die gründlich zerschlagene Gülen-Bewegung
taugt nicht länger als Alibi. Erdogan hat keine Ausreden mehr und
muss auch auf Deutschland zugehen. Selbst wenn die Verlockung groß
ist, kann Europa den Mann zwischen allen Stühlen nicht allzu lange
zappeln lassen. Denn sobald in den nächsten Wochen die Massaker an
zwei Millionen Zivilisten und Tausenden von Al-Kaida-Kämpfern in der
syrischen Provinz Idlib beginnen, wird der Nato-Partner Türkei wieder
gebraucht. Russen, Iraner und syrische Regierungstruppen kennen keine
Gnade. Eine unsägliche Tragödie mit Aushungern, Ausbomben und
verzweifelten Ausbruchsbewegungen an der türkischen Südwestgrenze
steht unmittelbar bevor. Zum Nachkarten bleibt da keine Zeit, wohl
aber zum Nachhaken in Sachen deutscher politischer Häftlinge in
türkischen Knästen.
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Datum: 10.09.2018 - 21:30 Uhr
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