Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel "Mittelbayerische Zeitung" (Regensburg) zur WM-Analyse von Fußball-Bundestrainer Joachim Löw
(ots) - Die Aufarbeitung dauerte Tag um Tag, Woche um
Woche, am Ende zwei Monate. Und so staatstragend, wie Fußball nun mal
ist, hat mancher vielleicht erwartet, der Bundestrainer würde die 23
Russland-Kicker von der Weltmeisterschaft allesamt zum Teufel jagen,
23 neue Namen herauszaubern und eine spektakuläre, für jedermann auf
einen Blick ersichtliche Taktik-Revolution an die Wand werfen, die
dem geneigten Publikum Aaahs und Ooohs entlockt und Fußball-Europa im
Hinblick auf die nächste Großmeisterschaft 2020 sofort Respekt
einflößt. Natürlich hat Joachim Löw weder das eine noch das andere
getan. Ist ja auch Blödsinn und geht nirgends, nicht mal in der
Kreisklasse. Löw und Oliver Bierhoff erklärten in München das
Debakel, Desaster oder wie man es nennen mag wortreich - und klopften
sich an die eigene Brust. Da fielen Begriffe wie Fehleinschätzung
oder Selbstläufer, selbstkritische Adjektive wie arrogant und
selbstgefällig, was im DFB-Jargon in solcher Klarheit eher selten
ist. Schwer war es nicht, derlei Worte zu finden, sondern nur eine
Zusammenfassung dessen, was in der Öffentlichkeit mehr oder minder
profunde Fußballkenner eh schon von sich gegeben hatten - und was
obendrein auf den WM-Fußballplätzen in Russland offensichtlich war.
Aber ein Stückerl arg glatt war er, der hübsch mit fachlichen Zahlen
garnierte Vortrag: Die Flamme, die Löw in der Mannschaft neu
entfachen will, entzündete Löw nicht so recht - zumindest vor dem
Bildschirm nicht. Ob das in der Kabine anders wird? Wobei ewig lange
Reden noch keiner Mannschaft irgendeinen Titel eingebracht haben.
Exakt das ist der Punkt: Die verbale Vorstellung der Analyse ist das
eine, Analyse-Teil zwei in München nächsten Mittwoch wird ungleich
wichtiger. Fußballsprüche sind platt, doch manche noch so platte
"Weisheit" trägt eine unverrückbare Kernbotschaft in sich. Und wo
liegt die Wahrheit jetzt? Richtig, auf dem Platz. Weltmeister
Frankreich kommt als Gegner übrigens wie gerufen. Wer Muffesausen vor
so einer Situation hat, hat in einem ambitionierten Team nichts
verloren. Topsportler - und der deutsche Fußball hat allen Unkenrufen
zum Trotz (noch) genug Topqualität - zeigen sich in den wichtigsten
Situationen am stärksten. Seinen Bonus freilich hat der
Ex-Weltmeister verspielt, nicht nur bei den Kontrahenten, auch bei
den Fans. Beides muss sich das Nationalteam neu verdienen. Und noch
einmal zur Erinnerung: Wie schwer der Umgang mit
Weltmeister-Lorbeeren ist, durften auch die Franzosen, Italiener und
Spanier erfahren, deren Teams auch als Weltmeister in der ersten
Runde nach Hause fuhren. Der Kelch geht eben nicht immer an
Deutschland vorbei. Dass 17 WM-Spieler wieder mit dabei sind, ist
prinzipiell eine gute Sache. Joachim Löw hat seinen Stamm und
beschwört den Jetzt-erst-recht-Effekt. Motivationstechnisch ist das
ganz einfach. Auch auf einem Gündogan trotz Erdogan-Bild zu beharren,
ist ein Zeichen von Stärke. Die hat sich Löw erarbeitet und verdient.
Denn wenn ein Trainer 14 Jahre gute Arbeit in der ersten Liga
leistet, darf er auch mal absteigen. Löw ist zu ausgebufft, um nicht
zu wissen, wie jeder seiner Handgriffe mit Argusaugen beobachtet
werden wird. Der Weltmeister- wie Absturz-Trainer kennt das: Vor 2014
gab es genug Stimmen, die behaupteten, mit Löw werde man nie
Weltmeister. Jetzt ist der Jogi-Bonus wieder weg. Herr Löw weiß, dass
ein guter Neubeginn helfen würde. Er wird aber auch den schlimmsten
Fall durchgespielt haben - und auch Gündogan sollte sich von fast
unvermeidlichen Pfiffen nicht beirren, sondern sich anspornen lassen
zur überzeugenden Leistung. Und so wird es wieder Tag um Tag, Woche
um Woche, ja Monate, bestenfalls die sechs ausstehenden Länderspiele
2018 dauern, um sich ein fundiertes Urteil bilden zu können, wohin
die Reise beim Fußball-Neustart geht.
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Datum: 29.08.2018 - 18:37 Uhr
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