Mittelbayerische Zeitung: Nicht nur feiern, auch denken
Von Claus-Dieter Wotruba
(ots) - Sie ist wieder da, die Zeit, in der jedes
Muskel-Aua eines deutschen Fußball-Nationalspielers von nationaler
Relevanz sein wird. Ganz zu schweigen von der Befindlichkeit von "Uns
Manuel" Neuer: Kann Deutschlands Super-Torwart wieder den Titel
einfangen? Kurzum: Es muss wohl sehr viel passieren auf der Welt, um
die Fußball-Weltmeisterschaft in den nächsten Wochen vom Mittelpunkt
des Interesses zu verdrängen. Alle diskutieren mit, alle haben
Ahnung, alle spielen Bundestrainer - und vor allem: Alle feiern. An
einer Fußball-Weltmeisterschaft führt kein Weg vorbei - und keiner
wird gefragt, ob er das nun will oder nicht. Die Verteidigung des
Titels ist eben eine nationale Angelegenheit. Ja, es ist die
Strahlkraft des Fußballs, die Dinge vollbringt, die sonst nur mühsam,
wenn überhaupt machbar sind. Fußball kann jede Art von Grenzen
aufheben, Zusammengehörigkeitsgefühl fördern, Groß und Klein, Alt und
Jung, gebildet und weniger gebildet verbinden - und viel Begeisterung
wecken. Letzteres haben gerade wir Deutschen am eigenen Leib erlebt:
Es war 1990, als die Menschen zur Feier der Erfolge in Italien
erstmals in Scharen und anfangs eher zaghaft auf die Straße gingen.
Das war nur die Vorstufe: Denn die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 hat
etwas verändert, was auf keinem anderen Weg zu schaffen war. Seit
2006, seit dem WM-Sommermärchen in Deutschland darf wieder
Schwarz-Rot-Gold ins Gesicht geschmiert werden, es dürfen Fahnen
geschwenkt werden, was das Zeug hält - und zwar ohne, dass es aus dem
Ausland als gefährlicher Nationalismus kritisch beäugt würde, ohne,
dass sich irgendjemand dafür schämt. Freilich: Man muss kein
Miesepeter sein, um Einwände zu erheben. Der Fußball unserer Tage hat
sich nämlich verändert. Nicht nur, dass Fußball zuvorderst in
Deutschland jeden anderen Sport er- und unterdrückt. Nein, die Kicker
sind in einer Welt angekommen, die längst fernab jeglicher Realität
ist. Die gigantischen Transfersummen und gigantischen Gehälter sind
ein Ausdruck davon. Woher das kommt, ist einfach zu sagen. Viele
kritisieren, viele schimpfen auf dieses und jenes - aber spielen alle
Spielchen mit. Beispiele? Es werden aberwitzige Preise für
Eintrittskarten und Fanartikel bezahlt - und im Dorfverein wird um 50
Cent Mitgliedsbeitrag im Monat fürs Kind gerungen. Fußballanhänger
können verdammt unkritisch sein, frei nach dem Motto: Wir lassen uns
unseren Spaß mit zuviel Überlegen nicht kaputtmachen. Doping? Bringt
nichts, das machen nur Radfahrer, Gewichtheber und Leichtathleten,
oder? Die Spieltage der Bundesligen erstrecken sich über immer
weitere terminliche Strecken und verschiedene Zeiten. Die
Übertragungen wandern ins Bezahlfernsehen und die Felder der Welt-
und Europameisterschaften werden ausgeweitet und ausgeweitet.
Fußballfans kommen trotzdem und bezahlen. Bald sind es 40 WM-Teams.
Irgendwann, wenn die Färöer gegen die Fidschis um den letzten freien
Platz spielen, wird die WM sechs oder acht Wochen dauern - und die
Menschen werden trotzdem in Millionenzahl vor den Fernsehschirmen
sitzen. Von den politischen Dimensionen ganz zu schweigen. Die
Schattenseiten von Brasilien, Russland oder Katar werden zur Kenntnis
genommen, mehr nicht. Aber haben die Erkenntnisse Konsequenzen? Es
scheint, als sei die Welt der Fußballfans bisweilen oberflächlich und
nähere sich der reinen Bespaßungswelt altrömischer Gladiatorenspiele
an. "Ich allein kann doch nichts ändern", wird jetzt der eine oder
andere sagen. Doch. Fußball kann genau das auch. Begeisterung und
Faszination für das Spiel lassen sich sehr wohl in Einklang mit einer
kritischen Betrachtungsweise bringen. Es gilt, nicht nur zu feiern,
sondern auch nachzudenken. Mal sehen, wie gut das bei dieser WM in
Russland funktioniert.
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