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Landeszeitung Lüneburg: Als Fieber die Welt schüttelte - Arzt und Historiker PD Dr. Wilfried Witte: Die Spanische Grippe vor 100 Jahren war die tödlichste Seuche - und wurde vergessen

ID: 1574142


(ots) - An keiner Seuche starben mehr Menschen als an der
Spanischen Grippe. Wieso spielt sie in unserem kollektiven Gedächtnis
eine viel schwächere Rolle als etwa die Pest?

Privatdozent Dr. Wilfried Witte: Die Pest wütete häufiger über
längere Zeiträume und stieß tiefgreifende gesellschaftliche
Änderungen an. Sie hat sich langsam, über Jahrhunderte ins kollektive
Gedächtnis eingeschrieben. Das Extrembild der Pest war den Menschen
immer dann wieder präsent, wenn etwas Ungeheuerliches passierte. So
glaubten auch 1918 Menschen, es mit dem "Schwarzen Tod" zu tun zu
haben, weil sich die Haut von Grippe-Infizierten infolge von
Sauerstoffmangel tiefblau bis schwarz gefärbt hatte. Eine deutsche
Forschergruppe wurde damals an die Schweizer Grenze geschickt, um das
zu untersuchen. Die Spanische Grippe ebbte einerseits zu schnell ab,
um als Schreckbild mit der Pest gleichzuziehen. Sie vollzog sich in
den meisten Ländern in den Jahren von 1918 bis 1920 in drei Wellen.
Die eigentlich tödliche Welle war die im Herbst 1918, der Seuchenzug
vollzog sich dabei rasend schnell innerhalb von zwei Monaten. Und das
auch noch in einer Zeit, die in der Wahrnehmung von anderen Dingen
geprägt war. Die Trommelfeuer an den Fronten des Ersten Weltkriegs
konfrontierten die Menschen mit unzähligen Gefallenen, extremen
Entstellungen, neuen neurologischen Phänomenen wie den
"Kriegszitterern" und Hungersnöten in der Heimat. Im Kaiserreich
überlagerte beispielsweise die Erörterung des Nahrungsmangels die der
Grippe. Die Krankheit tauchte als etwas Rätselhaftes auf. Mediziner
gerieten in Erklärungsnotstand, weil diese Epidemie so ungleich
verheerender verlief als vorherige. Es gibt zwar noch heute
lesenswerte minutiöse Beschreibungen der Symptome, bei den Ursachen
oder möglichen Gegenmitteln tappte man aber im Dunkeln.




Machte der Hunger das Virus tödlicher, weil die Menschen
ausgezehrt waren?

Witte: Es ist zwar plausibel, einen Zusammenhang anzunehmen, weil
derartige Umweltfaktoren immer die Virulenz eines Erregers
beeinflussen, aber beweisen lässt sich das im Nachhinein nicht.
Andererseits konnte die oft gestellte Frage, ob der Verlauf des
Ersten Weltkriegs samt Revolutionsgeschehen am Ende substanziell von
der Pandemie beeinflusst worden ist, nicht befriedigend beantwortet
werden. Bekannt ist beispielsweise, dass der amerikanische Präsident
Woodrow Wilson mit Grippe daniederlag, dass in Deutschland rund
400.000 Menschen der Krankheit erlagen und dass die USA 48.900
Gefallene zählten, aber 62.000 Grippetote.

Wieso raffte die Influenza 1918 vor allem die Jungen, Robusten mit
ihrem starken Immunsystem hin?

Witte: Betrachtet man die Altersverteilung bei den Opfern,
entsteht tatsächlich keine U-Kurve, wie zu erwarten wäre - also mit
dem Gros an Opfern bei den sehr Jungen und sehr Alten -, sondern eine
W-Kurve, mit besonders vielen Opfern in der Gruppe der 20- bis
35-Jährigen. Die hohe Todesrate unter denen, die von den
zeitgenössischen Ärzten als diejenigen mit kräftiger Konstitution
klassifiziert worden waren, galt damals als besonders rätselhaft. Man
kann davon ausgehen, dass das kräftige Immunsystem der Jüngeren
besonders heftig reagiert hat, was zur Zerstörung von besonders viel
Lungengewebe führte. Im Endeffekt richtete sich das Immunsystem so
gegen den eigenen Körper. Große Menschenansammlungen unter hygienisch
zweifelhaften Bedingungen - wie etwa in Rekrutenlagern -, boten dem
Virus dann perfekte Möglichkeiten, sich zu verbreiten.

Grippe-Viren schaffen den Sprung über die Artgrenze oft dort, wo
Menschen eng mit Schweinen und Geflügel zusammenleben, heute etwa in
Ostasien. War das ländliche Kansas 1918 insofern das ideale Labor?

Witte: Hier muss ich mit einer Frage antworten: Wer weiß es schon?
Es gibt verschiedene Hypothesen, wo der Patient Null hergekommen ist.
Die älteste vermutete ihn tatsächlich in Haskel County, im
US-Bundesstaat Kansas. Eine andere richtet den Fokus eher auf China,
aber es wird auch die These vertreten, dass die Westfront das Virus
gebar. Man kann es nicht beantworten.

War 1918 der Urknall dieses Virus-Typus oder gab es schon vorher
Seuchenzüge von H1N1-Viren? Könnten Seuchenzüge der Vergangenheit,
die als Pest deklariert wurden, tatsächlich Grippe-Pandemien gewesen
sein?

Witte: Natürlich ist das Grippevirus ein uralter Erreger.
Allerdings stoßen wir bei der historiographischen Betrachtung an die
Grenzen der retrospektiven Diagnose. Je weiter man zurückgeht, desto
fremdartiger werden die Krankheitsbeschreibungen. Im 18. Jahrhundert
sprach man etwa vom "hitzigen Fieber". Für uns ist Fieber ein
Symptom, keine Krankheit. Seriös kann man hier keine bestimmte
Krankheit behaupten. Es gab viele Versuche, historische Pandemien
nachträglich zur Grippe umzudeuten, etwa die "Attische Seuche" 430
bis 426 vor Christus. Wirklich überzeugend sind diese Versuche nicht.
In den 1990er-Jahren rückten Viren wie Hanta oder Ebola in den Fokus.
Sie hatten ganz besonders hohe Todesraten und erinnerten an das Virus
der Spanischen Grippe. Dieses Virus gilt seitdem als Prototyp einer
Gruppe von Viren. Sie werden auch als "emerging viruses" bezeichnet -
Viren, die besonders rasant und bedrohlich auftreten können. Man muß
aber aufpassen, dass Warnungen vor Grippeviren nicht in Richtung
Alarmismus abdriften.

Garantieren die weiterentwickelten Therapien, dass es nicht wieder
eine derart verheerende Grippe-Pandemie geben wird?

Witte: 1918 dürften viele Opfer an bakteriellen
Sekundärinfektionen gestorben sein. Geht man davon aus, dass die
Umgebungsfaktoren viel zur Tödlichkeit eines Virus beitragen, haben
wir heute in Deutschland mit einem Arsenal von Antibiotika und einer
Überflussgesellschaft gänzlich andere Bedingungen als vor 100 Jahren.
Dennoch ist eine vergleichbare tödliche Seuche nicht auszuschließen.
Allerdings erscheint mir das massenhafte Einlagern von
Neuraminidase-Hemmern, die die Vermehrung der Viren eindämmen, indem
sei ein Enzym hemmen, als fragwürdig, weil Tamiflu - um mal einen
Markennamen zu nennen -, ein Medikament mit einer nicht besonders
hoch zu veranschlagenden Wirksamkeit ist. Von daher wäre es sehr
fraglich, ob das Geld in dieser Form des Katastrophenschutzes gut
angelegt wäre. Die Grippeschutzimpfung ist dagegen sinnvoll,
ungeachtet der wachsenden Impfskepsis. Therapien wie die invasive
Beatmung mithilfe einer künstlichen Lunge sind wirkungsvoller, dank
der Weiterentwicklung der Therapie nach der Schweinegrippe 2009, aber
bei dem Szenario eines massenhaften Krankheitsausbruchs nicht für
alle verfügbar. Dafür bedürfte es sehr viel mehr dieser Maschinen und
entsprechend geschultes Personal. Die geeignete Vorsorgestrategie
bleibt das Impfen gekoppelt mit der Virenüberwachung durch das
Robert-Koch-Institut. Die vor Jahren hochfliegenden Träume, man
könnte das Virengeschehen allein durch die Auswertung entsprechender
Suchanfragen im Internet überblicken, sind mittlerweile geplatzt.
Völlige Sicherheit gibt es nicht, es gibt aber auch keinen Anlass für
Panik. Leider ist die Begrifflichkeit schwammig, man spricht etwa von
einem "grippalen Infekt", was sprachlich ungünstig ist, weil das
Attribut in diesem Fall eben nicht eine Grippe beschreibt, sondern
eine Erkältung. Betroffene merken den Unterschied sofort: Hohes
Fieber, Gliederschmerzen am ganzen Körper, trockener Husten sind
klassische Symptome. Am besten hilft immer noch das, was auch vielen
Infizierten 1918 geholfen hat: sich komplett zurückziehen und ins
Bett legen. Denn ein spezifisches, hochwirksames Medikament gibt es
nicht.

Steigert die leichtfertige Verschreibung von Antibiotika auch bei
viralen Infektionen die Gefahr von Resistenzen und damit von
gefährlichen Krankheitsverläufen?

Witte: Ja. Wir haben ein massives Problem mit zunehmenden
Resistenzen - einerseits durch den Einsatz von Antibiotika in der
Tierzucht, andererseits durch Fehlverschreibungen. Der Wunsch des
Patienten darf dem Arzt bei der Ausstellung eines Rezeptes nicht die
Feder führen. Aber auch wenn dies im Falle von bakteriellen
Sekundärinfektionen die Problematik erhöht, darf nicht aus dem Blick
gelassen werden, dass die hohe Todesrate vor allem dem
Influenza-Virus anzulasten ist.

Wäre der Einsatz von Tamiflu im Falle eines beginnenden
Seuchenzugs heute angesichts der schnellen Verbreitung über Flugzeuge
chancenlos?

Witte: Das lässt sich nicht seriös beantworten. Falls etwa ein
neues, zerstörerisches Virus auftritt, ist völlig offen, ob ein
Medikament, das jetzt im günstigsten Fall den Krankheitsverlauf um
ein bis zwei Tage kappt, dann Wirkung zeigt. Studien haben eine
relativ geringe Wirksamkeit der Neuraminidase-Hemmer belegt. Es ist
deshalb schon erstaunlich, dass offizielle Stellen immer noch davon
ausgehen, das wäre das benötigte Medikament im Falle eines
Seuchenzugs. Richtig ist, dass man nichts anderes hat, das ursächlich
wirkt und nicht nur symptomatisch.

Die heutigen Gesellschaften sind im Vergleich zu denen vor 100
Jahren sehr viel älter. Sollte Grippeschutz-Impfung zur Pflicht
werden?

Witte: In einer Demokratie wäre es vermessen, dies zur Pflicht zu
machen. Nicht zuletzt, weil das ständig mutierende Virus
Impfkampagnen ins Leere laufen lassen kann und der Schutz von
Impfungen gerade bei älteren Menschen oft herabgesetzt ist.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe(at)landeszeitung.de

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Datum: 26.01.2018 - 11:38 Uhr
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