Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zur katholischen Kirche, Autor: Julius
Müller-Meiningen
(ots) - In einer Welt, in der fast alles möglich
scheint, hatten Katholiken eine Gewissheit, auf die Gläubige anderer
Religionen verzichten mussten. Der Papst gab den Kurs vor, auch wenn
das manchmal unangenehme Folgen hatte. Man konnte diesem
Autoritarismus Folge leisten, sich an ihm reiben oder ihn ignorieren.
Das Papsttum blieb trotz aller Orkanböen der Moderne eine letzte
Instanz für Katholiken, ein polarisierender Anker im Ozean der
Beliebigkeiten. Jetzt ist es plötzlich andersherum: Der Papst selbst
bringt alte Gewissheiten in Bewegung. Der Anker, der bislang
dogmatische Sicherheit und eine gewisse katholische Bequemlichkeit
gewährleistete, hat sich gelöst. Für die katholische Kirche ist das
ein entscheidender Paradigmenwechsel. Papst Franziskus ist in seinem
fünften Amtsjahr und rüttelt unverzagt an den Dogmen des
Katholizismus. In der bislang hermetischen Ehe- und Sexualmoral der
Kirche lässt er Ausnahmen zu, die für Kritiker dem Anfang vom Ende
gleichkommen. Der Papst versucht, lokalen Kirchen vor Ort mehr
Autorität zu verleihen, etwa in Fragen der Liturgie oder der
Gerichtsbarkeit. Das entspricht seiner Idealvorstellung einer Kirche,
die nicht nur von oben herab angeleitet wird, sondern sich gemeinsam
fortbewegt. Viele Katholiken sind angesichts dieser Veränderungen
verstört. Priester, Theologen und Laien bezichtigen ihr Oberhaupt
unverhohlen der Verbreitung von Irrlehren. Kardinäle zweifeln
öffentlich am Lehramt des Papstes. Auf der anderen Seite gibt es
Befürworter der neuen Freiheit, die den Papst öffentlich gegen seine
Gegner verteidigen. Die katholische Kirche durchlebt eine
Identitätskrise, in der die grundverschiedenen Überzeugungen über das
an die Oberfläche gelangen, was Katholischsein im 21. Jahrhundert
bedeuten soll. Wie viel Wirklichkeit verträgt die Kirche, ohne eine
beliebige christliche Religions- und Interessengemeinschaft zu
werden, lautet dabei die Gretchenfrage. Ob Franziskus seine
Weichenstellungen auch über sein eigenes Pontifikat hinaus absichern
kann, ist ungewiss. Die dogmatischen Öffnungen, etwa sein Zugehen auf
wiederverheiratete Geschiedene könnte sein Nachfolger wieder
rückgängig machen. Allzu progressive Theologen könnten in Zukunft
auch wieder von einer auf Linie getrimmten Glaubenskongregation
zurechtgewiesen werden. Unter Franziskus herrscht weitgehend
theologische Narrenfreiheit, kein katholischer Freidenker muss
derzeit um seine Karriere fürchten. Stattdessen verlieren derzeit
dogmatische Koryphäen wie Kardinal Gerhard Ludwig Müller Ämter und
Einfluss. Doch auch die mühsam voranschreitenden Reformen in der
Kurie und bei den Vatikanfinanzen sind Stückwerk. Diese
Richtungswechsel sind bislang Reformkosmetik, der Papst hat keine
vollendeten Tatsachen geschaffen. Sein Spielraum ist durch die
kräftige Opposition begrenzt. Franziskus hat jedoch andere Keile
eingetrieben, die den Kurs der Kirche nachhaltig prägen werden. Der
bald 81-Jährige hat das Kardinalskollegium mit seinen bisherigen
Ernennungen stark mitbestimmt. Das Gremium, aus dem eines Tages sein
Nachfolger gewählt werden wird, besteht heute schon zu weiten Teilen
aus Pastoren, wie der Papst sie sich wünscht: engagiert im Dialog und
mit Blick für die Belange der Gläubigen. Vor allem aber hat
Franziskus das Papsttum endgültig entzaubert. Bergoglio gibt sich als
Pontifex zum Anfassen, der ein primus inter pares, aber kein
Alleinherrscher mehr sein will. Das Zeitalter der Päpste, die sich
auf die Anerkennung ihrer Autorität und Verbindlichkeit ihrer
Entscheidungen verlassen konnten, ist endgültig vorbei.
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Datum: 02.11.2017 - 18:26 Uhr
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