Künstliche Intelligenz ist längst da
(ots) - Das Stöhnen über die digitale Disruption ist kaum
verklungen, da ist künstliche Intelligenz in aller Mund. Auch vor der
Verleihung des «Werber des Jahres» 2017 im Zürcher «X-tra» wurde
heiss über dieses Thema diskutiert. Politiker, Marketingleiter und
Werber, Konsumentenschützer und Moderator, alle waren sich einig,
dass in Sachen KI bereits einiges geht - aber dass es noch lange
dauern wird, bis Künstliche Intelligenz der Kommunikationsbranche die
Kommunikation abspenstig machen wird. Stimmt das wirklich?
Nein. Künstliche Intelligenz ist alles andere als Zukunftsmusik:
Bereits 60,5 Millionen Amerikaner sprechen gemäss einer Studie
regelmässig mit Alexa, Siri & Co., das ist knapp ein Fünftel der
amerikanischen Gesamtbevölkerung. Vor allem die 25- bis 34-Jährigen
entwickeln sich schnell zu Heavy-Usern. Es kann nicht mehr lange
dauern, bis Apple-TV mit Siri auch in der Schweiz funktioniert, bis
selbstfahrende Autos keine Schlagzeile mehr wert sind. Die Los
Angeles Times lässt einen Teil ihrer News von Robots erstellen; sie
produzieren Meldungen zu aktuellen Themen viel rascher als ein
Redaktor - und fordern obendrein kein Honorar. Erste Agenturen
checken mit KI und neuronalen Netzen in Sekundenschnelle, welche
Slogans oder Bildwelten bei welcher Zielgruppe besonders gut
funktioniert haben, und leiten daraus neue Kampagnen ab. Schweizer
Versicherungen werten mit KI Schadensfälle aus, KI-Programme führen
in sekundenschnelle Krebsdiagnosen durch und empfehlen Therapien nach
dem neuesten Forschungsstand. Ärgerte man sich vor fünf Jahren noch
über das nervige «Den-Einkaufswagen-Füllen-alles-aufs-Band-Legen-und-
in-den-Wagen-Zurückpacken», hält man heute selbst den Scanner in der
Hand, der auch nur noch ein Übergangs-Device ist: Amazon eröffnet
einen Lebensmittelladen, in dem man sich mit dem Smartphone ein- und
ausloggt. Der Einkaufswagen registriert, was man einkauft und was man
wieder ins Regal zurücklegt. Der Kaufpreis wird automatisch
abgebucht.
Sie können diese rasante Entwicklung toll finden oder bedrohlich,
das spielt letztlich keine Rolle. Fakt ist, dass sie nicht
aufzuhalten ist und wir uns daran werden gewöhnen müssen, einen Teil
unserer persönlichen Daten zu teilen. Kluge Systeme nehmen uns (nicht
so intelligente) Tätigkeiten ab und schenken uns dafür Zeit - die
wirklich rar geworden ist und die wir dann für echte Kreativität
nutzen können. Oder zur Regeneration.
Das war bei der Industrialisierung nicht anders: Plötzlich
erledigten Maschinen körperlich sehr anstrengende und monotone
Arbeiten, Menschen wurden davon befreit. Wer diese Entwicklung
schnell adaptierte, fand sich rasch bei einer höherwertigen Arbeit
wieder. Wer sich verweigerte, verlor - oft nicht nur seine Arbeit. So
wird es auch bei dieser Revolution sein. Freuen wir uns, dass KI uns
leidige Arbeiten wie Einkaufen, das Durchflöhen schon dagewesener
Kampagnen oder Verfassen von Kurzmeldungen abnehmen kann. Dann können
wir uns um komplexe Recherchen, packende Reportagen und
Knallerkampagnen kümmern; können uns überlegen, was unser Rezipient
morgen lesen oder hören, welche Werbung er sehen will - und ihm zum
richtigen Zeitpunkt genau das anbieten, was er in der nächsten Minute
ohnehin gesucht hätte. Quasi in vorauseilendem Gehorsam, predictive,
personalisiert und hoch relevant.
Dafür müssen wir unsere sehr menschliche Angst vor dem Kommenden
fahren lassen; ebenso die Panik vor dem Verlust der Kontrolle über
unsere persönlichen Daten. Bedroht es wirklich unsere Autonomie, wenn
irgendwo gespeichert ist, dass ich lieber Baguette mit Bündnerfleisch
esse als mit Thon? Oder ist es ein super Service, wenn mich niemand
mehr mit Thonsandwiches belästigt? Entscheiden Sie selbst. Mich
persönlich stört es weniger, wenn ein schlaues Rechenprogramm die
Sache mit dem Baguette über mich weiss, als wenn mein Nachbar meine
Wäsche im Tumbler studiert. Und der ist nicht einmal intelligent.
Anne-Friederike Heinrich
Editorial der am 2.6.2017 erschienenen Werbewoche 10/2017.
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Datum: 06.06.2017 - 09:04 Uhr
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