Mittelbayerische Zeitung: Richter spielen / Das TV-Ereignis "Terror" zeigt:
Gut, dass Gerichte urteilen - und nicht der Bauch.
(ots) - Die Fernsehnation saß am Montagabend vor dem
Bildschirm und durfte Richter spielen. In Ferdinand von Schirachs
"Terror - Ihr Urteil" war der Zuschauer aufgerufen, über einen
Luftwaffenpiloten zu urteilen, der einen Airbus mit 164 Passagieren
an Bord abgeschossen hatte, um 70 000 Menschen in der Allianz Arena
zu retten. Das Ergebnis: 86,9 Prozent der Zuschauer entschieden für
Freispruch. Das Urteil ist erschreckend. Aus verschiedenen Gründen.
164 Passagiere gegen 70 000 Stadiongäste - die Abwägung liegt für die
große Mehrheit im TV-Publikum klar auf der Hand: Lieber wenige töten,
als viele sterben lassen. Die Kleinigkeit, dass Menschenleben nicht
nach Quantum, individueller Anschauung oder akutem innerem
Handlungsdruck zur Disposition stehen, schieben sie beiseite. Der
Umstand, dass ein Einzelner über das Recht auf Leben von anderen
entscheidet: Geschenkt. 164 gegen 70 000 - Mensch, das sieht doch
jeder, dass die Airbus-Passagiere hier zu opfern sind. Das
Bundesverfassungsgericht hat 2006 das Luftsicherheitsgesetz geändert.
Danach wäre der fiktive Flugzeug-Abschuss ein Verstoß gegen die
Menschenwürde. Die Karlsruher haben nach reiflicher Prüfung geurteilt
- an einer Grenze dessen, was juristisch überhaupt entscheidbar ist.
Die Zuschauer folgten offenbar dem "gesunden Menschenverstand". Sie
unterwerfen unser Grundrecht ihrem Bauchgefühl. So wie im Fall Jacob
von Metzeler, als ein Ermittler dem verdächtigen Entführer Folter
angedroht hatte: Mensch, das sieht doch jeder, dass hier alle Mittel
auszuschöpfen sind, um ein unschuldiges Kind zu retten. Der
Flugkapitän und der Frankfurter Kommissar: Mensch, das sieht doch
jeder, dass sie es gut gemeint haben. Die darf man doch nicht
bestrafen. Die sinnliche Gewissheit hat das Wort. Für den Philosophen
Hegel steht sie für das größte Maß an Dummheit. Die Philosophen
brüten über ansatzweise ähnliche Konstellationen. Das ist etwa der
Rettungsboot-Fall: Sechs Menschen, fünf Rettungswesten. Wer darf
überleben? Ein Kind, ein alter Mann, eine Schwangere, ein unheilbar
an Krebs erkrankte Frau? Die Frage bleibt unentscheidbar, am Ende
müsste gewürfelt werden. Die Richter-Rolle gefiel den Zuschauern
offensichtlich: 6,88 Millionen Menschen verfolgten das Gerichtsdrama
im Ersten, 6,31 Millionen sahen im Anschluss noch die Debatte bei
"hart aber fair". Für Marktanteile von mehr als 20 Prozent feierten
Programmdirektor und Produzenten die Sendung als "TV-Ereignis des
Jahres". Selten hat trockener juristischer Stoff so breit in die
Masse wirken dürfen. Die Sensibilisierung für Grundsatz-Fragen muss
man der TV-Produktion zu gute halten. Hinterfragen muss man die
realitätsferne Darstellung der Gerichtsverhandlung, auch wenn die
Beteiligten von der Crème der deutschen Schauspielerriege verkörpert
wurden. Und kritisieren muss man grobe juristische Unschärfen, die
jetzt in die Köpfe eines Millionenpublikums gepflanzt sind. Das
Verdienst des Gerichtsdramas ist die Debatte, die es auslöst.
"Terror" berührt einen Punkt, der sich zu einem Trend zu entwickeln
scheint. Es geht um den Sieg des Gefühls über das Gesetz, den Sieg
des Gerechtigkeitsempfindens über das Recht. Nicht das Gesetz,
sondern Empörung soll diktieren, welche Politiker öffentlich sprechen
dürfen. Nicht das Gesetz, sondern das mitfühlende Verständnis soll
bestimmen, wer für einen Rechtsbruch zu bestrafen ist. Eine
Gesellschaft, die diesem Trend folgt, kommt in Teufels Küche. Sie
gibt ihre Grundlagen auf. Die TV-Produktion lässt viele Fragen offen,
auch Fragen, die letztgültig nicht zu beantworten sind. Eine
Gewissheit schafft sie immerhin: Gut, dass Gerichte urteilen. Und
nicht der Bürger und sein Bauch.
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