Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu den Bayerischen Theatertagen: Eine tragende Rolle von Marianne Sperb
(ots) - Regensburg hat zwei Wochen lang Theater in all
seinen Facetten erlebt: poetisch, hemmungslos, geschichtsbewusst,
klug, schrill, in grandiosen Bildern und aufwühlender Musik. Der
Himmel hing voller Äpfel, duftige Folie umschmeichelte Tänzer,
Lustschreie drangen aus diversen Betten, in der "Reichstheaterkammer"
wurde die Rolle eines Intendanten in der NS-Zeit ergründet. Das sind
ein paar Stichworte aus einem prallen Programm. 35 Häuser
präsentierten bei den Bayerischen Theatertagen rund 50
Inszenierungen. Der Spielplan war zudem gespickt mit Zusatzprogramm
bis in die Nacht. Das Regensburger Theater glänzte in jeder Hinsicht
in der Hauptrolle als Gastgeber. Das Festival zeigte, was für ein
Schatz das Theater ist - aber auch, worüber wir uns Sorgen machen
müssen. Es gibt einen Hunger nach Theater. Das belegt der Run auf
Tickets. Knapp 80 Prozent der Karten wurden verkauft, rund 14 000
Menschen zog es ins "Wilde Bayern". Die Qualität der Aufführungen war
sehr unterschiedlich. Das Regensburger Haus, das eigene
Inszenierungen wie "Der Prozess", "Homevideo" und "The House"
aufführte, schnitt im Bayern-Vergleich gut ab. Das ist eine zweite
Erkenntnis aus dem Festival. Es gibt aber auch eine Abkehr vom
Theater. Das macht das Beispiel Augsburg klar, eines der Ensembles,
die in Regensburg Gast waren. In Augsburg ist gerade ein Phänomen zu
besichtigen: Kulturinteressierte Bürger, Menschen aus der Mitte der
Gesellschaft, formieren sich dort zum Protest gegen das Theater. Sie
wollen es lieber schließen als sanieren lassen, weil sie die Gelder
anderweitig besser investiert sehen. Auch deshalb braucht es
Festivals wie "Wildes Bayern": Ein breites Publikum, das aus den
Vorstellungen intensive Gefühle und neue Gedanken mitnimmt, ist die
beste Versicherung gegen die Idee, Theater wäre verzichtbar. Theater
spielt gerade in der Gegenwart eine tragende gesellschaftliche Rolle.
Es ist der Ort, an dem Meinung gebildet und ausgetauscht wird, an dem
Fragen gestellt und Antworten gesucht werden - und zwar ohne
parteipolitische Bindung und quer durch alle sozialen Schichten.
Zahlreiche Inszenierungen im "Wilden Bayern" griffen brennende Themen
wie Fremdsein und Heimat auf, zahlreiche Produktionen fragten nach
aktuellem Kontext und machten den Wechsel von Perspektiven möglich.
Das Theater, nach den 1970er Jahren zunehmend als
Unterhaltungseinrichtung begriffen, gewinnt wieder stärker an Profil
als politische Anstalt. Schauspieler nehmen heute nicht nur Rollen
ein, sondern sie recherchieren auch und schreiben Texte. Auch das war
bei diesem Festival zu besichtigen. Das Konzert "Welcome together -
again" von und für Flüchtlinge, am Rand des Festivals veranstaltet,
wurde überdies zu einem eindrucksvollen Statement für eine offene
Gesellschaft. Politiker betonen gern den Wert von Kultur, auch als
Garant für eine aufgeklärte Bürgerschaft. Aber die Bedingungen für
die zentralen Akteure, für die Tänzer, Sänger, Schauspieler,
Regieassistenten und so weiter, sind schlecht. Unter welch
erbarmungslosem Druck junge Schauspieler stehen, zeigte das Festival
in einer Münchner Inszenierung. Und für welch grenzwertig niedriges
Honorar sie arbeiten, erzählte ein Regensburger Ensemblemitglied am
Rand der Theatertage. Diplomierte Einsteiger erhalten nach dem
bundesweiten Tarif 1765 Euro brutto im Monat. Idealismus und Beifall
allein können auf Dauer eine gesellschaftlich relevante Institution
nicht nähren. Auch diese Einsicht ist aus dem Festival mitzunehmen.
Bayerns Theater sind ein Schatz. Aber das Juwel muss poliert werden,
damit es glänzen kann.
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Datum: 09.06.2016 - 20:24 Uhr
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