Das blinde Vertrauen / Feinschliff für die Goalballmannschaft des Förderzentrums Sehen aus Neukloster: Beim Bundesfinale Jugend trainiert für Paralympics in Berlin soll in dieser Woche der Titel her (FOTO)
(ots) -
Der glänzend-rutschige Hallenboden sieht aus wie frisch gebohnert.
Ein dezentes Holzaroma liegt in der Luft. Laura, einen großen, blauen
Gummiball unter dem Arm, ist der Geruch in diesem Moment ziemlich
gleichgültig. Ihre ganze Konzentration gilt den nächsten zwei, drei
Schritten. Ganz langsam trippelt sie rückwärts. Die blonde Schülerin
streckt ihren Arm nach hinten aus, bis sie die Querstange des Tores
spürt - angekommen. Dann prescht Laura nach vorn, holt aus und
schleudert den Ball quer durch die Halle. Laura ist sehbehindert und
spielt Goalball. Ab dem 27. April geht es dann für sie und ihre
Mannschaft um die Wurst.
Es ist ein trister Dienstagnachmittag im April, als sich diese
Szenerie unzählige Male wiederholt und dabei viel Erhellendes mit
sich bringt: für die Goalball-Mannschaft des Überregionalen
Förderzentrums Sehen (ÜFZ) in Neukloster nahe Wismar. In der
altehrwürdigen Turnhalle am Jahnsportplatz, Ende des 19. Jahrhunderts
erbaut und ein Gemälde einer Sportstätte, bereitet sich die
ÜFZ-Mannschaft akribisch auf das Frühjahrsfinale "JUGEND TRAINIERT
FÜR PARALYMPICS" (JTFP) in Berlin vor. Der Wettbewerb ist für die
Goalball-Cracks aus Mecklenburg-Vorpommern das Highlight des Jahres.
Und deshalb soll in dieser Woche auch der Titel her.
Ob es damit an der Spree klappen wird, hängt im großen Maße auch
von Christina Erpen ab. Zweimal wöchentlich bittet die
Landestrainerin ihre Schützlinge zum Training. Mit Argusaugen
verfolgt Erpen die Einheiten, denen sie vor das eigentliche Spiel ein
ausgedehntes Aufwärmprogramm mit Seilspringen und Rutschübungen
stellt. "Es ist beim Goalball sehr wichtig, in die Streckung zu
kommen. Dafür muss der Körper unter Spannung stehen. Und um das zu
erreichen, braucht man neben Technik und Leidenschaft auch eine gute
Athletik", erklärt Erpen. Sie will diesmal nichts dem Zufall
überlassen. In Berlin hat das ÜFZ etwas gutzumachen. Im vergangenen
Jahr hatte man das Bundesfinale knapp gegen Nürnberg verloren.
Christina Erpen unterrichtet am ÜFZ lebenspraktische Fertigkeiten.
2001 wurde sie auf Goalball aufmerksam und hat die Sportart seitdem
an der Landesblindenschule am Neuklostersee etabliert. Auch Judo,
Rhönradturnen und Basketball stünden bei den Schülern hoch im Kurs.
"Aufgrund unserer vielen Erfolge ist der Nachschub innerhalb der
Goalball-Mannschaft aber immer recht hoch", sagt die 54 Jahre alte
Rehabilitationslehrerin. Erfreulich für Christina Erpen: Knapp 25 der
etwa 85 Schüler spielen Goalball. Der Ertrag an guten Spielern ist
dementsprechend hoch. Regelmäßig stellt das ÜFZ Athleten für die
Junioren-Nationalmannschaft, die 2015 Weltmeister wurde. Außerdem
verstärken sie den VfL Blau-Weiß Neukloster, der in dieser Saison als
jüngstes Team in der Bundesliga mit von der Partie ist. Das Team ist
im Nachwuchsbereich praktisch das "Bayern München des Goalballs".
"Das kann man auf jeden Fall so stehen lassen", sagt Christina Erpen.
Goalball wurde nach dem zweiten Weltkrieg für Kriegsblinde
entwickelt und gehört zu den paralympischen Mannschaftssportarten. Um
an internationalen Wettbewerben teilnehmen zu dürfen, darf die
Sehkraft der Spieler maximal zehn Prozent betragen. National darf pro
Team ein Normalsehender auf dem 18 mal neun Meter großen Feld stehen.
Hier versuchen je drei Spieler eines Teams, einen mit drei Glöckchen
präparierten Ball ins neun Meter breite, gegnerische Tor zu werfen.
Die verteidigende Mannschaft versucht den Ball abzuwehren, indem sich
die Spieler diesem in den Weg werfen. Um Chancengleichheit zwischen
den Akteuren herzustellen, tragen alle Spieler eine Dunkelbrille. Für
ihre Aktionen brauchen sie blindes Vertrauen. Sie müssen sich auf
Markierungslinien auf dem Boden, ihre Intuition und Mitspieler sowie
ihr Gehör verlassen können. Allerdings: Je schneller der Ball
geworfen wird, desto schwieriger ist es, ihn mit dem Gehör zu orten.
Zum vierten Mal werden die Goalballer neben Tischtennis und
Rollstuhlbasketball in dieser Woche beim Frühjahrsfinale von "JUGEND
TRAINIERT FÜR PARALYMPICS" in Berlin dabei sein. 2015 nahmen in
diesen drei Sportarten 137 Kinder und Jugendliche aus elf
Bundesländern am Bundesfinale teil. Der unter der Schirmherrschaft
des Bundespräsidenten Joachim Gauck stehende
Schulmannschaftswettbewerb wird seit 2013 zeitgleich mit den Finals
von "JUGEND TRAINIERT FÜR OLYMPIA" ausgetragen. Als Hauptsponsor
beider Schulsportwettbewerbe unterstützt die Deutsche Bahn die
Förderung von jungen Nachwuchstalenten und setzt so ein Zeichen für
die Integration von Kindern mit und ohne Behinderung über den Sport.
Insofern hat die Deutsche Bahn auch die Anreise für die mehr als
3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit und ohne Behinderung zum
Bundesfinale in Berlin organisiert, die gemeinsam das Bild in
Deutschlands Zügen am 26.04. mit Sicherheit etwas bunter als
gewöhnlich gestalten werden. Die Deutsche Behindertensportjugend
(DBSJ) und die Deutsche Schulsportstiftung kümmern sich nach
erfolgreicher Anreise um den reibungslosen Ablauf in Berlin. Das
Frühjahrsfinale von "JUGEND TRAINIERT FÜR PARALYMPICS" richtet sich
an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische
Entwicklung sowie Schulen für blinde und sehbehinderte Schüler. Die
Wurzeln des ÜFZ Neukloster gehen auf die 1864 gegründete
Großherzoglich-Mecklenburgische Blindenanstalt zurück. Heute werden
in der August-Bebel-Allee Kinder und Jugendliche heilpädagogisch,
pflegerisch und psychosozial betreut. Träger der Einrichtung ist der
Landkreis Nordwestmecklenburg.
Zurück beim ÜFZ-Ensemble neigt sich das muntere Trainingsspielchen
dem Ende entgegen. Noch einmal lässt Christina Erpen ihre
Trillerpfeife erklingen - Penalty! Ole ist eine regelwidrige Aktion
unterlaufen. Nun muss er als einziger Spieler seiner Mannschaft einen
Strafwurf des Gegners abwehren. Kein Wunder, dass der 13-Jährige in
dieser Phase etwas aufgeregter ist als sonst - irgendwie hibbelig,
wie man hier sagen würde. "Ich kann nicht so gut hören, deshalb ist
Goalball noch schwieriger für mich", erzählt er später. Jetzt steht
er Danny gegenüber, ausgerechnet dem besten Spieler des ganzen Teams,
der im vergangenen Jahr Junioren-Weltmeister wurde.
Laura schaut sich das Ganze entspannt von der Auswechselbank aus
an, wo sie sich gerade eine kleine Verschnaufpause gönnt. Das
Training ist für sie gut gelaufen. In einem der letzten Spielzüge
hatte sie gleich doppelt Erfolg. Erst wehrte sie einen Ball ab, und
anschließend erzielte sie ein weiteres Tor. Sie gehört an diesem
Nachmittag zum siegreichen Team. Ginge es nach ihr, dürfte es so für
sie und das ÜFZ Neukloster auch beim Finale in Berlin laufen. Aber
bis es soweit ist, wird weiter am Feinschliff gearbeitet, Laura noch
unzählige Male Frau Erpens Trillerpfeife hören und den blauen
Gummiball durch die schöne Sporthalle am Jahnsportplatz werfen.
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Datum: 26.04.2016 - 10:08 Uhr
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