Mittelbayerische Zeitung: Der Preis der Freiheit - Mit Swetlana Alexijewitsch hat das Nobelpreiskomitee eine politische - und kluge - Wahl getroffen. Von Claudia Bockholt
(ots) - Erst vor zwei Jahren hat Swetlana Alexijewitsch
den dezidiert politischen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
erhalten. Nun würdigt auch das Nobelpreiskomitee das Lebenswerk einer
durch und durch politischen Autorin. Ein gutes Signal. Es ist
wichtig, dass Alexijewitsch weltweit verstärkt wahrgenommen wird: Das
Totschweigen im eigenen Land darf nicht den Sieg davontragen. Die
Kunst, schreibt Alexijewitsch auf ihrer Homepage, könne sehr viele
Aspekte des Menschen überhaupt nicht erfassen. Eine Literatin im
engeren Sinn will sie deshalb gar nicht sein. In ihren
dokumentarischen Collagen lässt sie die Menschen sprechen und die
nackte, unbequeme Realität. Alexijewitsch erlebte deshalb in der
UdSSR Repressalien, die sich auch nach dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums fortsetzen. Sie verließ ihre Heimat Weißrussland für
eine Weile, lebt aber heute wieder in Minsk. Gewiss musste sie nicht
leiden wie die sowjetischen Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg, denen
sie Anfang der 80er Jahre als erste überhaupt eine Stimme verlieh.
Doch auch Alexijewitsch hat einen Preis dafür bezahlt, dass sie sich
die Freiheit, die man bis heute in vielen Ländern des ehemaligen
Ostblocks nur ungern oder gar nicht gewährt, einfach nahm.
"Archäologin der kommunistischen Lebenswelt" wurde sie bei der
Friedenspreisverleihung genannt. Ein schiefes Bild. Das klingt, als
lege jemand Jahrtausende alte Skelette und Artefakte einer
untergegangenen Welt frei, die uns heute so fern ist wie ein
sagenhaftes Atlantis. Dabei lauern die Gespenster der Vergangenheit
doch hinter jeder Ecke - häufig springen sie hervor und erschrecken
uns. Alexijewitsch legt mit ihren Büchern den Finger in die Wunde,
spricht auch in Interviews frank und frei. Putin, den der Westen
wegen seiner Unberechenbarkeit fürchtet, der sich in Russland aber
auf treue Gefolgschaft stützt, habe alles, was nach dem Weltkrieg
aufgebaut wurde, "in die Luft gesprengt", sagte sie vor einem Jahr.
Russland sei von der Sprache der Gewalt durchtränkt. "Wer nicht
jubelt, ist ein Volksfeind". Die starke Hand, der sich zu
Sowjetzeiten alle beugen mussten, scheint den Menschen nun ersehnten
Schutz und Geborgenheit zu verheißen. In abgeschwächter Form war das
auch in den neuen Bundesländern zu erleben: Es war ja nicht alles
schlecht - und dabei ging es nicht nur um Rotkäppchensekt und
Milchmädchen-Kaffeesahne. Die mühsame, langwierige, wohl nie ganz
abgeschlossene Bewältigung des faschistischen Regimes, die die
Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg durchlaufen musste, findet
in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nicht statt. Der Traum vom
Kommunismus hat vielmehr frische Triebe bekommen: Früher hatten
wenigstens alle gleich wenig. "Das Elend und das Leid scheinen
vergessen", sagt die Literaturnobelpreisträgerin. Sie will mit ihren
Worten erreichen, dass eine ernsthafte Diskussion über das
sowjetische Erbe beginnt. Afghanistankrieg, Tschernobyl, Selbstmörder
(Russland verzeichnete 800 000 Suizide binnen 20 Jahren und hat die
zweithöchste Selbstmordrate der Welt): Swetlana Alexijewitsch hält
die Erinnerung an das Leben und das Leiden in der Sowjetunion wach -
und erzählt das Leben, Leiden und Sterben derer, die in den
postkommunistischen Zeitläuften auf der Strecke geblieben sind. Man
kann von ihr viel lernen, vor allem über die Ängste, die die Menschen
"drüben", im wieder kälter gewordenen Osten, umtreiben. Die neuen
Ängste und Unsicherheiten sind der Preis, den sie für ein Leben ohne
Blick auf den Eisernen Vorhang bezahlen. Swetlana Alexijewitsch
erhält den Literaturnobelpreis für ihren Mut, auch die Freiheiten
einzufordern.
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