Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden für eine Durchsuchungsanordnung endet mit der Befassung des zuständigen Richters
Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden für eine Durchsuchungsanordnung endet mit der Befassung des zuständigen Richters
(pressrelations) -
Pressemitteilung Nr. 54/2015 vom 15. Juli 2015
Beschluss vom 16. Juni 2015
2 BvR 2718/10, 2 BvR 2808/11, 2 BvR 1849/11
Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden für die Anordnung einer Durchsuchung endet mit der Befassung des zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichters und der dadurch eröffneten Möglichkeit präventiven Grundrechtsschutzes. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden; zugleich hat er drei Verfassungsbeschwerden gegen die gerichtliche Bestätigung von staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsanordnungen stattgegeben. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden lebt nicht dadurch wieder auf, dass der mit der Sache befasste Richter nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums entscheidet. Sie kann nur dann erneut begründet werden, wenn nachträglich eintretende oder bekannt werdende neue Tatsachen die Annahme von Gefahr im Verzug rechtfertigen. Dem Staat obliegt es, eine effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten, insbesondere durch angemessene sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte.
Sachverhalt:
Im Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2718/10 teilte ein Anzeigeerstatter der Polizei am 10. Mai 2010 gegen 16:30 Uhr mit, der Beschwerdeführer sei im Besitz einer Pistole und dessen Mutter habe gedroht, den Anzeigeerstatter umbringen zu lassen. Der gegen 17:25 Uhr telefonisch erreichte Ermittlungsrichter erklärte, ohne Vorlage einer Ermittlungsakte keine Entscheidung über die beantragte Durchsuchungsanordnung treffen zu können. Daraufhin ordnete die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung aufgrund der akuten Bedrohungslage für den Anzeigeerstatter um 17:30 Uhr selbst an.
Im Verfahren 2 BvR 1849/11 wurde die Polizei am 25. August 2009 gegen 13:43 Uhr informiert, dass die Beschwerdeführerin in einem Internetcafé ein Selbstbezichtigungsschreiben für einen geplanten Brandanschlag auf Kraftfahrzeuge von Postdienstleistern verfasst habe. Der zuständige Ermittlungsrichter konnte nicht erreicht werden; sein Vertreter erklärte um 16:42 Uhr telefonisch, er könne ohne Vorlage der Ermittlungsakte keine Entscheidung über die beantragte Durchsuchungsanordnung treffen. Die Staatsanwaltschaft ordnete um 16:50 Uhr die Durchsuchung selbst an, da die Erstellung und Übersendung der angeforderten Akte aus ihrer Sicht etwa zweieinhalb Stunden gedauert hätte, die Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit aber die Gelegenheit gehabt hätte, in ihre Wohnung zurückzukehren.
Im Verfahren 2 BvR 2808/11 leitete die Staatsanwaltschaft im Februar 2008 ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer ein, weil dieser verdächtig sei, gegen das Verbot des Inverkehrbringens nicht zugelassener Arzneimittel verstoßen zu haben. Aufgrund eines Zeitungsartikels, durch den der Beschwerdeführer von dem Ermittlungsverfahren hätte erfahren können, beantragte die Staatsanwaltschaft am 21. Juli 2008 eine Durchsuchungsanordnung. Der zuständige Ermittlungsrichter erklärte, dass er ohne Ermittlungsakte nicht entscheiden könne und zudem gleich in eine Haftvorführung müsse; daher liege ein Fall von "Gefahr im Verzug" vor. Daraufhin ordnete die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung selbst an.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Verfassungsbeschwerden sind im Wesentlichen begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG.
1. Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Dem Einzelnen wird im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse der Persönlichkeitsentfaltung ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein; daher behält Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vor. Der Richtervorbehalt zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz. Die richterliche Durchsuchungsanordnung darf keine bloße Formsache sein. Der Richter muss vielmehr dafür sorgen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen der Durchsuchung genau beachtet werden.
Zugleich ergibt sich aus Art. 13 GG die Verpflichtung der staatlichen Organe, die effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten. Daher haben Bund und Länder für eine sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, die eine wirksame präventive richterliche Kontrolle von Wohnungsdurchsuchungen sicherstellt.
2. Gemäß Art. 13 Abs. 2, 2. Halbsatz GG können Durchsuchungen bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen angeordnet werden. Wortlaut und Systematik des Art. 13 Abs. 2 GG belegen jedoch, dass zwischen richterlicher und nichtrichterlicher Durchsuchungsanordnung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht. Ordnen die Strafverfolgungsbehörden eine Durchsuchung an, fällt die präventive Kontrolle durch den unabhängigen und neutralen Richter weg. Die verbleibende nachträgliche Kontrolle kann den erfolgten Grundrechtseingriff nicht mehr rückgängig machen und genügt dem Anspruch präventiven richterlichen Grundrechtsschutzes nicht. Demgemäß ist der Begriff "Gefahr im Verzug" eng auszulegen und nur anzunehmen, wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme - regelmäßig die Sicherstellung von Beweismitteln - gefährdet wird. Kann hingegen der Richter mit dem Durchsuchungsbegehren befasst werden und über dieses entscheiden, ohne dass damit ein Risiko des Verlustes von Beweismitteln verbunden ist, ist für einen Rückgriff auf die Eilkompetenz der Strafverfolgungsbehörden kein Raum.
Nach der Konzeption des Art. 13 Abs. 2 GG haben dies die Ermittlungsbehörden zunächst selbst zu prüfen. Dabei haben sie die Regelzuständigkeit des Richters zu beachten und die konkreten Umstände des Einzelfalles in Rechnung zu stellen. Insbesondere haben sie die Komplexität der zu prüfenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen und den insoweit erforderlichen Zeitaufwand zu berücksichtigen. Sie haben auch in ihre Überlegungen einzubeziehen, dass die Vorlage schriftlicher Unterlagen zur Herbeiführung einer richterlichen Eilentscheidung zumindest nicht ausnahmslos erforderlich ist. Jedenfalls in einfach gelagerten Fällen bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der zuständige Richter allein aufgrund mündlich übermittelter Informationen entscheidet und die Durchsuchung auch mündlich anordnet, sofern er diese Anordnung zeitnah schriftlich dokumentiert.
Falls die Ermittlungsbehörden von Gefahr im Verzug ausgehen und die Durchsuchung selbst anordnen, sind die ihrer Entscheidung zugrunde gelegten Umstände des Einzelfalles zu dokumentieren. Dies ist erforderlich, um der Garantie effektiven Rechtschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung zu tragen.
3. a) Haben die Ermittlungsbehörden den zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichter durch Antragstellung mit der Sache befasst, endet ihre Eilzuständigkeit. Dies ist dann der Fall, wenn die Staatsanwaltschaft dem zuständigen Richter den Antrag tatsächlich unterbreitet hat, so dass dieser in eine erste Sachprüfung eintreten kann. Nicht maßgeblich ist dagegen der tatsächliche Beginn der sachlichen Prüfung durch das Gericht oder gar die endgültige gerichtliche Entscheidung. Eine entsprechende Dispositionsbefugnis des Ermittlungs- oder Eilrichters ergibt sich insbesondere nicht aus der grundgesetzlich garantierten Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 GG).
Auch soweit die Gefahr eines Beweismittelverlusts eintritt, etwa weil der Richter schriftliche Antragsunterlagen oder eine Ermittlungsakte fordert, Nachermittlungen anordnet oder schlicht noch nicht entschieden hat, lebt die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden nicht wieder auf. Dies gilt unabhängig davon, aus welchen Gründen die richterliche Entscheidung über den Durchsuchungsantrag unterbleibt. Mit seiner Befassung ist es Aufgabe des Richters, den durch Art. 13 Abs. 2 GG geforderten präventiven Grundrechtsschutz unter Beachtung des Verfassungsgebots effektiver Strafverfolgung zu gewähren.
Scheitert hingegen der Versuch der Befassung des Gerichts, weil der zuständige Richter und sein Vertreter - trotz eines ernsthaften Bemühens - nicht erreicht werden können, und droht infolgedessen ein Beweismittelverlust, kommt ein Rückgriff auf die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden in Betracht. Die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Dokumentationspflichten erfassen in diesem Fall auch die Darlegung der durchgeführten Kontaktversuche mit dem zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichter und dessen Vertreter.
b) Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden kann nur dann neu begründet werden, wenn nach der Befassung des Richters tatsächliche Umstände eintreten oder bekannt werden, die sich nicht aus dem Prozess der Prüfung und Entscheidung über diesen Antrag ergeben, und hierdurch die Gefahr eines Beweismittelverlusts in einer Weise begründet wird, die der Möglichkeit einer rechtzeitigen richterlichen Entscheidung entgegensteht. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt allerdings, dass in einem solchen Fall die maßgeblichen Umstände in einer Weise dokumentiert werden, die eine gerichtliche Überprüfung des Vorliegens eines Eilfalles ermöglichen.
c) Auf die Ausgestaltung der justizinternen Organisation kann die Eilzuständigkeit der Ermittlungsbehörden nicht gestützt werden. Dies ergibt sich aus der Verpflichtung der staatlichen Organe, dafür Sorge zu tragen, dass ausreichende personelle und sachliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um die effektive Durchsetzung des präventiven Richtervorbehalts einerseits und eine funktionstüchtige Strafrechtspflege andererseits zu gewährleisten. Defizite insoweit rechtfertigen eine Einschränkung des durch Art. 13 Abs. 2 GG angestrebten präventiven richterlichen Grundrechtsschutzes nicht. Ansonsten würde die Praxis das Recht und nicht das Recht die Praxis bestimmen. Dies ist dem Rechtsstaat fremd.
4. Die mit den Verfassungsbeschwerden zulässig angegriffenen Beschlüsse sind mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren. In allen drei Verfahren bestand eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft nach der Befassung des zuständigen Ermittlungsrichters beziehungsweise seines Vertreters nicht mehr. Dabei ist im Verfahren 2 BvR 2718/10 ohne Belang, ob und inwieweit die Anordnung der Staatsanwaltschaft mit dem Ziel erfolgte, möglicherweise bestehende Gefahren für Leib oder Leben des Anzeigeerstatters abzuwenden. Einer solchen Gefahr muss gegebenenfalls durch polizeirechtliche Maßnahmen begegnet werden. Im Verfahren 2 BvR 2808/11 führt der Umstand, dass der Ermittlungsrichter durch eine aus seiner Sicht vorrangige Haftvorführung an einer Entscheidung über den Durchsuchungsantrag gehindert war, nicht dazu, dass die Eilzuständigkeit der Staatsanwaltschaft wiederauflebt.
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Datum: 15.07.2015 - 11:15 Uhr
Sprache: Deutsch
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