Westfalen-Blatt: zur Leipziger Buchmesse
(ots) - Für Sonntag um 11.40 Uhr empfehlen wir einen
Besuch in Halle 4.1, A4. Dort werden Maiglöckchengedichte
vorgetragen. »Musikalisch untermalt von Eichendorff, der in seinem
Grabe jault.« (Programmheft) Sie merken: Leipzig hat Humor. Den kann
sich die Stadt auch leisten. Anders als die aufs Geschäftliche
fixierten Frankfurter, die im Herbst, wenn in Mainhattan Bücherschau
gehalten wird, das Dollarzeichen in die Pupille eingravieren, so dass
Messegäste bei jedem Flattern des Augenlids ein Klingeln wie von der
Registrierkasse hören. Die Leipziger hingegen gehen ihr Ereignis
entspannt an. Familiär. Angesichts von 240 000 Besuchern kommt zwar
nicht auf jeden Gast ein Autor, aber das Bemühen um Nähe ist
unverkennbar: 3000 Mitwirkende bei 3200 Veranstaltungen an etwa 400
Orten vor 2263 Ausstelleraugenpaaren - das macht Freude. Verkauft
wird auch, klar, aber der Spaß steht im Vordergrund, und deswegen
hebt im Frühjahr der Knabe froh erschrocken aus dem Grase sich
geschwind (Eichendorff), lange bevor das erste Maiglöckchen bimmelt,
und eilt zum Lesefest: »Leipzig liest« ist die wahre Attraktion der
Buchmesse. Der »FAZ«-Redakteur Dietmar Dath schüttelt in den
Blütenflocken seine feinen blonden Locken (schon wieder Eichendorff),
respektive das Resthaar über der hohen Stirn und doziert über die
Ökonomie der Verzweiflung in zwei deutschen Staaten. Paul Maar, der
Erfinder des Sams, erfindet den Galimat (bitte googeln). Und der
singende Armleuchter Christian Anders liest aus dem »Buch des
Lichts«, Band 7, bevor er im Zug nach Nirgendwo fährt. Wer wollte das
verpassen? »Die Zeiten, wo man überlegt, ob man präsent sein will,
sind endgültig vorbei«, heißt es bei Suhrkamp, jenem Verlag, der nach
jahrelangem Kampf gegen eine Heuschrecke froh ist, überhaupt noch
existent zu sein. »Man hat hier mehr Zeit für ein Gespräch, weil es
nicht so hektisch zugeht.« Die tiefenentspannten Macher in Leipzig
hatten sogar die Muße, im Regelwerk zu blättern. Das wurde nötig,
nachdem sie aus Versehen einen Gedichtband auf die Shortlist zum
Buchpreis gesetzt hatten. »Ich musste in den Statuten nachlesen, ob
Gedichte und Theaterstücke überhaupt zulässig sind«, gab der
Jury-Vorsitzende Hubert Winkels erschrocken zu. Glück gehabt: Lyrik
ist auch Literatur, und so kann es passieren, dass volle 158 Jahre
nach Eichendorffs Tod erstmals ein Verseschmied einen öffentlich
wahrnehmbaren Literaturpreis erhält: Jan Wagner für seine
»Regentonnenvariationen«. Merken Sie was? Wir haben es in einem Text
über Bücher geschafft, das Thema »Alarm! Die E-Books kommen!«
auszuklammern. Das soll auch so bleiben - die Zukunft des gedruckten
Buches ist kein bisschen gefährdet. Wir halten es mit den
optimistischen Leipzigern. Und mit Eichendorff: Frühling ist es
wieder und ein Jauchzen überall. Auf Wiedersehen in Halle 4.1!
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Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261
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Datum: 11.03.2015 - 21:00 Uhr
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