Tag der seltenen Krankheiten / Rare Disease Day - Die lange Suche nach der Therapie
(ots) -
- 4 Millionen Menschen in Deutschland betroffen
- Zusammenarbeit zwischen privaten Initiativen, Dachverbänden und
Pharmaindustrie
- Henry Wahlig lebt seit 23 Jahren mit der seltenen Krankheit HSP
Dr. Henry Wahlig hat HSP - Hereditäre Spastische Spinalparalyse.
Eine Krankheit, die kaum jemand kennt. Er ist einer von vier
Millionen Menschen in Deutschland, die an einer seltenen Erkrankung
leiden. Für die meisten dieser Krankheiten gibt es keine Therapie.
Mit einer Stiftung fördert Henrys Vater die Grundlagenforschung, um
den Pharmaunternehmen die Ansätze zu liefern, die sie für neue
Medikamente brauchen.
Mit zwölf Jahren zeigten sich bei Henry Wahlig die ersten
Symptome. Ein leichtes Stolpern beim Laufen, leichte Verkrampfungen -
Zeichen für die beginnende HSP. Wie sich später herausstellt, leiden
auch Henry Wahligs Mutter und Großmutter an der Erbkrankheit. 2.000
bis 3.000 Menschen sind in Deutschland an HSP erkrankt. Die
Dunkelziffer ist hoch, da die Diagnose schwierig ist, die Symptome
häufig als Multiple Sklerose fehlgedeutet werden. Eine Therapie gegen
HSP gibt es nicht, auch für die Linderung der Symptome sind keine
Wirkstoffe zugelassen.
Dieses Schicksal teilen die HSP-Patienten mit den meisten anderen
von seltenen Erkrankungen betroffenen. Rund 7.000 seltene
Erkrankungen sind bekannt und im Orphanet-Verzeichnis aufgelistet
(http://ots.de/Q2MFV). Für nur 177 davon gibt es Therapien
(http://ots.de/uHTGh), einige andere können über Off-Label-Use
behandelt werden. Als selten gilt eine Erkrankung nach EU-Definition,
wenn weniger als einer von 2.000 Menschen betroffen ist.
Henry Wahlig ist jetzt 35 und hat sich mit der Krankheit so gut
wie möglich abgefunden. "Zehn bis zwanzig Meter kann ich noch ohne
Hilfe gehen, ansonsten brauche ich halt Krücken oder den Rollstuhl."
Seine Leidenschaft für Fußball konnte er nie selbst ausleben -
losgelassen hat ihn der Sport aber nicht. Während seines Studiums hat
Henry Wahlig in der Pressestelle des VfL Bochum gearbeitet, als
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft der
Uni Hannover hat er über jüdische Sportler in Deutschland promoviert.
"Es ist bitter, wenn man sieht, was man nach und nach alles nicht
mehr kann", sagt er. Andererseits sei es eine gut berechenbare
Krankheit, die in eine vollständige Lähmung der Beine münde. "Im
Vergleich zu tödlich verlaufenden Erkrankungen geht es mir relativ
gut." Komplizierte Verläufe der HSP können allerdings auch Teile des
Oberkörpers lähmen.
Grundlage: Ein Forschungsstand von 1886
Dr. Tom Wahlig musste die beginnende Krankheit seines Sohnes mit
ansehen - abfinden wollte er sich mit ihr nicht. 1998 gründete er die
Tom-Wahlig-Stiftung (http://www.hsp-info.de/) mit dem Ziel, die
Krankheit und ihre Ursache zu erforschen, um den Weg für eine
Therapie zu bereiten. Die Grundlage für seine Arbeit war denkbar
dünn, der aktuellste Forschungsstand stammte aus dem Jahr 1886. "Am
Anfang hatten wir nichts. Es war noch nicht einmal das Gen bekannt,
das bei HSP defekt ist, nur, dass die Krankheit wahrscheinlich
erblich ist", erinnert sich der Stifter. Mit viel Einsatz hat er sich
in die Materie hineingearbeitet, Ärzte und Forscher kontaktiert,
Netzwerke geschaffen.
Die Erfolge, die Tom Wahlig mit seiner Stiftung erreicht hat, sind
beachtlich. 21 Gene, die durch einen Defekt die Krankheit auslösen
können, und 48 Genorte sind mittlerweile bekannt. Viele der
Erkenntnisse sind direkte Resultate der 35 Forschungsprojekte, die
durch die Stiftung finanziell unterstützt wurden. Auch ein stabiles
Mausmodell wurde entwickelt. Aber eine Therapie? "Bislang
Fehlanzeige", sagt Tom Wahlig. "Es sind immer wieder
vielversprechende Ansätze dabei, aber keiner, der zum Durchbruch
führt."
Das Risiko des Scheiterns in der Forschung ist groß
Dieses Problem kennt Dr. Peter-Andreas Löschmann, Medical Director
für den Bereich Seltene Erkrankungen bei Pfizer, zur Genüge. "Das
Risiko des Scheiterns ist in der Arzneimittelforschung sehr groß. Nur
jedes zehntausendste Molekül, an dem geforscht wird, schafft es zur
Zulassung." Dennoch sei das Engagement von Initiativen wie der
Tom-Wahlig-Stiftung sehr wichtig und ein möglicher Beginn für die
Entwicklung einer Therapie bei Pfizer. "Prinzipiell kann aus jedem
rationalen Forschungsansatz etwas therapeutisch Verwertbares
entstehen", betont Löschmann.
Eine der Aufgaben als Stifter sieht Tom Wahlig auch darin, die
Forschung immer wieder in die richtige Richtung zu lenken. "Ich muss
daran erinnern, dass die Entwicklung einer Therapie unser Ziel ist",
sagt er. Dieses Ziel versteht sich bei Pfizer von selbst. Allerdings
ist hier nicht eine Krankheit, sondern ein ganzes Spektrum im Blick.
"Es gibt für uns keinen festgeschriebenen Weg", erklärt Löschmann.
"Es kann sein, dass wir an einem pharmakologischen Prinzip arbeiten
und feststellen, dass es für die Behandlung einer bestimmten seltenen
Erkrankung geeignet ist." Auch bereits bekannte Wirkmechanismen
würden auf eine Wirksamkeit bei seltenen Erkrankungen untersucht
werden.
Nationaler Aktionsplan ein großer Schritt in der Vernetzung
Die Suche nach einer Therapie ist häufig wie die nach der
Stecknadel im Heuhaufen. Die vielen Hürden kennt auch Dr. Andreas
Reimann, Vorstandsvorsitzender der Allianz Chronischer Seltener
Erkrankungen ACHSE e.V., nur zu genau: "Ich muss erst einmal
überhaupt die Krankheit verstehen, um einen biologischen Ansatzpunkt
zu haben. Dann brauche ich einen Wirkmechanismus, der dort angreift.
Dieser muss patentierbar sein. Damit kann ich dann einen Investor
suchen." Tom Wahlig steht bei der HSP noch immer vor der zweiten
Hürde, bei vielen Erkrankungen ist noch nicht einmal die erste
genommen.
Als Dachverband von Patientenorganisationen und Stiftungen im
Bereich der seltenen Erkrankungen versucht die ACHSE, an allen
Punkten dieses Prozesses anzusetzen. "Wir schaffen Verbindungen
zwischen Forschungsansätzen, die von Mitgliedern kommen, und
Unternehmen oder Einrichtungen, die diese Ansätze weiterführen
können", erläutert Reimann. Ein wichtiger Schritt in Richtung
stärkerer Vernetzung mit der Gründung des Nationalen
Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE)
durch die ACHSE, das Gesundheits- und das Forschungsministerium im
Jahr 2010 erreicht worden. Forschung fördern, Versorgung verbessern,
Klinische Studien ermöglichen - diese Inhalte finden sich im
Nationalen Aktionsplan des NAMSE wieder, der 2013 verabschiedet
wurde.
Steuerliche Förderung der Forschung als Option
Dieses Engagement der öffentlichen Hand ist auch eine Antwort auf
den immer wieder geäußerten Vorwurf, die Pharmaindustrie kümmere sich
zu wenig um seltene Erkrankungen. "Die Industrie kann nicht für jede
Erkrankung ein Arzneimittel entwickeln. Ich bin zu lange Kaufmann
gewesen, um das nicht zu wissen", sagt Tom Wahlig. Wichtig sei, dass
private Initiativen, Industrie sowie Bund und Länder Hand in Hand
arbeiteten. Auch Reimann sieht in diesem Bereich weitere Potenziale:
"Die öffentliche Hand könnte zum Beispiel die Forschung der
Unternehmen durch Bürgschaften absichern, um so die Renditeerwartung
zu senken." Löschmann sieht diesen Ansatz skeptisch: "Niemand kann
für den Erfolg der Forschung bürgen. Aber eine steuerliche
Forschungsförderung, wie sie in vielen anderen Ländern bereits
etabliert ist, könnte dazu beitragen, die Forschung zu
intensivieren."
Bei allen Ideen und Anstrengungen gilt immer: Forschung lässt sich
finanzieren - Erfolg aber nicht garantieren. "Auch verbreitete
Krankheiten wie Alzheimer zeigen, dass man Therapien nicht erzwingen
kann", sagt Reimann. Henry Wahlig ist dennoch optimistisch: "Wenn ich
sehe, wie viel in den letzten Jahren passiert ist, habe ich schon die
Hoffnung, dass in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren der Durchbruch
gelingt. Auch wenn das für mich dann nicht mehr rechtzeitig kommt."
Gentherapie bietet großes Potenzial
Gentherapien könnten der Schlüssel dafür sein. Mit Glybera wurde
2014 die erste Gentherapie gegen eine seltene Erkrankung zugelassen.
Das Arzneimittel heilt eine schwere Fettstoffwechselstörung, die
Lipoproteinlipase-Defizienz (LPLD), durch einen neuartigen Ansatz:
Genetisch veränderte, nicht mehr infektiösen Viren, die die
Erbinformation für das fehlendes Enzym in sich tragen, versetzen
körpereigene Zellen in die Lage, das Enzym selbst zu synthetisieren.
"Solche Therapieansätze mit genetisch veränderten Viren stehen jetzt
erst am Beginn des klinischen Einsatzes", sagt Löschmann. Das
Potenzial gerade für den Bereich der seltenen Erkrankungen sei jedoch
groß.
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Datum: 25.02.2015 - 12:45 Uhr
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