Thüringische Landeszeitung: "Diese Fußballer-Generation muss endlich etwas abliefern"
(ots) - Weimar. Für Marcel Reif, einen der bekanntesten und
beliebtesten Sportkommentatoren Deutschlands, zählt das deutsche Team
neben Brasilien und Spanien mit zu den Top-Favoriten der
Weltmeisterschaft. Im Interview mit der Thüringischen Landeszeitung
(Weimar, Donnerstag-Ausgabe) äußert sich Reif auch zum Gigantismus
des Turniers, zur Situation in Brasilien und fordert, über das
Scheichtum Katar als Austragungsort der WM 2022 noch einmal neu zu
entscheiden.
Ihr Sender Sky hat keine Rechte an der Ausstrahlung der
Fußball-WM. Ein Marcel Reif bei einer Weltmeisterschaft zu Hause, wie
muss ich mir das denn vorstellen? Das muss ich auch noch lernen. Seit
1986 ist das meine erste Weltmeisterschaft, bei der ich nicht vor Ort
bin.
Und Sie haben auch nicht vor, nach Brasilien zu fahren? Nein. Ich
habe mich für etwas anderes entschieden. Mit meiner Frau mache ich
eine Schiffsreise. Und auf dem Schiff werde ich etwas zur Fußball-WM
erzählen.
So ganz vom Kommentatoren-Job können Sie sich also nicht trennen?
Nein. Natürlich interessiert mich die WM. Wenn das nicht so wäre,
könnte ich meinen Job bald an den Nagel hängen.
Lassen Sie uns über die deutsche Nationalelf reden. Nur knapp ein
Viertel der Deutschen glaubt derzeit an einen Titelgewinn. Zählen Sie
eher zu den Skeptikern oder zu den Optimisten? Natürlich waren mit
Neuer, Schweinsteiger, Lahm und Khedira in der Vorbereitung genau die
Spieler verletzt, die die Schlüsselpositionen inne haben -- unsere
Führungsspieler, auf die es besonders ankommt. Entscheidend ist, wie
fit sie beim Start der WM sind. Wenn sie fit sind, bleibe ich bei
meinem Spruch: Ich wette nicht auf die deutsche Nationalmannschaft,
ich wette aber auch keinen Groschen gegen sie.
Wann würden Sie sich auf eine Prognose festlegen? Nach dem Spiel
gegen Portugal wissen wir, wohin die Reise gehen kann. Von der
Leistungsstärke her zählt die deutsche Mannschaft sicher zu den
Top-Favoriten, direkt nach Brasilien. Die Gastgeber sind vielleicht
noch ein wenig brillanter, sind aber natürlich zu Hause einem
gewaltigen Erwartungsdruck ausgesetzt.
Dem Fußball von Jogi Löw wird oft vorgeworfen, er lehre ein
schönes Spiel, das am Ende aber wenig effektiv sei. Teilen Sie diese
Meinung? Es gab schon sehr effektive Spiele. Ich habe manchmal den
Eindruck, dass der Bundestrainer durch zu vorsichtiges Taktieren und
zu viel Verkopftem der Mannschaft selbst den Zahn zieht. Dieses Team
ist in der Lage, jeden Gegner dieser WM zu schlagen und nicht nur
schön zu spielen. Ein Problem sehe ich bei den Stürmern. Natürlich
sind auch einige verletzt. Aber dass der Bundestrainer nur Miro Klose
mitnimmt - darüber runzele ich mit Verlaub die Stirn. Ich frage mich,
ob das System des falschen Neuners, das Pep Guardiola in Barcelona
erfunden hat, wirklich das Alleinseligmachende sein kann.
Ein bisschen Zweifel an der Taktik höre ich da heraus? Ja. Bei
allen Turnieren seit 2006 war Löw der Taktiker hinter dem Spiel der
Mannschaft. Für mich waren die Spiele teilweise zu vorsichtig, es
wurde zu viel über Taktik nachgedacht statt die Mannschaft einfach
ihre Möglichkeiten ausspielen zu lassen.
Das meinen Sie mit zu verkopft? Ja, es wird bei den taktischen
Überlegungen zu viel um die Ecke gedacht. Es muss doch darum gehen,
dass die deutsche Mannschaft ihr Potenzial entfalten kann und nicht
darum, wie man die anderen hindern kann, zu ihrem Spiel zu kommen.
Lassen Sie uns mal auf Brasilien schauen. Ist eigentlich ein
eigenes Dorf für die deutsche Nationalelf notwendig oder ist das
nicht alles übertrieben? Fragen Sie mich am Abend des Finales noch
einmal... Wenn Deutschland den Titel holt, muss man sicher alles toll
finden, was bis dahin gelaufen ist. Nach dem jetzigen Stand frage ich
mich aber schon: Wer braucht das? Muss das wirklich sein? Ist das
Abschotten leistungsfördernd? Die anderen Mannschaften machen das
nicht, haben das auch bislang nicht so gemacht - und haben trotzdem
Titel gewonnen. Jogi Löw hat mit dieser Mannschaft noch keinen Titel
gewonnen.
Das ist sein Problem.
Das ist kein Problem, das ist eine Tatsache. Über Fußball kann man
herrlich streiten, aber über Tatsachen streite ich nicht.
Setzt aber dieser fehlende Titel Mannschaft und Trainer nicht
unter einen gehörigen Druck? Selbstverständlich. Irgendwann muss
diese Fußballergeneration etwas abliefern. Jetzt muss diese
Mannschaft, nach allem was man theoretisch sagen kann, auf dem
Höhepunkt ihres Schaffens sein. Wenn das so ist, ist das deutsche
Team einer der Top-Favoriten für diese WM. Jetzt ist es Zeit, endlich
mal ein Turnier zu gewinnen.
Welche Mannschaft kann noch von sich behaupten, Top-Favorit zu
sein? Die Brasilianer wollen natürlich den Titel im eigenen Land.
Alles andere wäre für sie ein sportliches Desaster. Spanien, weil die
Mannschaft der notorische Favorit ist und weil sie in den letzten
Monaten heftig kritisiert worden sind, sie seien zu satt und über
ihren Zenit schon hinaus. Die Franzosen und Holländer haben etwas gut
zu machen, die Italiener sind immer gut dafür, bis zum Schluss dabei
zu sein. Oder nehmen Sie die Belgier: Die Mannschaft hat viel drauf,
sie sind aber keinem Erfolgsdruck ausgesetzt. Für die ist es nur eine
Spaßreise.
Legen Sie sich auf eine Rangfolge fest? Brasilien, Deutschland,
Spanien.
Sie haben bei den Belgiern gesagt, der Mannschaft mache es einfach
Spaß. Ist dieser Faktor Spaß einer verbissenen deutschen Mannschaft
abhanden gekommen? Ich glaube nicht, dass man von Verbissenheit reden
kann. Die deutsche Mannschaft zeigt im Spiel eine gewisse
Leichtigkeit, keinen verbissenen deutschen Kraftfußball. Wir haben
sie lange genug gefeiert, gelobt und auch genossen. Aber Fußball wird
auf diesem Niveau gespielt, um am Ende etwas zu gewinnen. Deswegen
kann man diesen Druck nicht leugnen.
Mal über den Fußball hinausgeblickt: In Brasilien gibt es Proteste
wegen der Milliarden, die diese WM gekostet hat. Würden Sie sich
manchmal mehr Bescheidenheit bei solchen Turnieren wünschen?
Bescheidenheit ist mir zu hoch gegriffen. Was wir verlangen können,
ist gesunder Menschenverstand. Natürlich ist das in den letzten
Jahren alles aus dem Ruder gelaufen. Zu Katar muss man eigentlich gar
nichts mehr sagen. Aber auch in Japan und Südkorea wurden Stadien
gebaut, die heute kein Mensch mehr braucht. Das gleiche ist in
Südafrika passiert.
Wo liegt die Gefahr? Darin, dass sich diesen Gigantismus nur noch
wenige leisten können. Und dann läuft es wieder auf Deutschland,
Frankreich, England, Spanien, Brasilien, Argentinien hinaus. Die
Proteste in Brasilien zeigen den ganzen Irrsinn. Es werden neue
Stadien gebaut - und nach der WM spielt dort nicht mal mehr ein
Zweitligist. Das finde ich frivol bis obszön und absolut
unerträglich. Aber diese Entwicklung gibt es schon länger. Ich
erzähle Ihnen mal ein Beispiel aus Südafrika. Dort gibt es in Durban
ein Rugby-Stadion mit einer Kapazität für mehr als 60 000
Zuschauer. Es hätte nur einen geringen Aufwand gekostet, dieses
Stadion WM-tauglich zu machen. Aber Rugby- und Fußballverband konnten
sich nicht einigen. Also wurde auf der gegenüberliegenden
Straßenseite ein neues Fußballstadion für 60 000 Menschen
gebaut. Das Stadion wird heute kaum noch gebraucht. Aber mit dem
Geld, das dort verbaut wurde, hätte man 300 000 Menschen Strom,
Wasser und ein Dach über dem Kopf geben können. Das
ist unverantwortlich.
Muss man über den Austragungsort Katar noch einmal neu nachdenken?
Aber selbstverständlich. Da ist gelogen, betrogen und geschmiert
worden. Wir halten uns so viel zugute auf unsere demokratischen
Standards. Und dann können wir das doch nicht so einfach hinnehmen.
Darf denn die Fifa alles machen?
Braucht auch die Fifa eine Generalsanierung? Spätestens jetzt
müssen sie sich Gedanken machen, wie man so etwas ein für alle mal
verhindert. Sonst ist das bestenfalls ein Schmierentheater. Nein,
mehr. Denn Korruption ist kriminell.
Ist Fifa-Boss Sepp Blatter noch tragbar? Unter seiner Ägide ist
dies so gelaufen. Er zeigt hier alles andere als Führungsstärke.
Zum Schluss möchte ich noch einmal persönlich fragen: Wenn Sie
schon nicht selbst kommentieren können, gibt es einen
Lieblingskommentator unter Ihren Kollegen? Selbst wenn es so wäre,
würde ich das nicht sagen.
Mit dieser Antwort hatte ich, ehrlich gesagt, gerechnet. Weil Sie
glauben, dass ich anständig erzogen bin...
Sie kommentieren live. Und es gibt immer wieder Überraschungen,
beispielsweise vor vielen Jahren das legendäre umgefallene Tor. Macht
genau das den Reiz von Live-Sendungen aus? Sicher ist das reizvoll.
Aber es kann auch grandios danebengehen. Damals ist es nicht
danebengegangen. Live macht mir am meisten Spaß.
Um an das umgefallene Tor anzuknüpfen: Sie haben damals im Duett
mit Günther Jauch öfter gesagt: Was wir jetzt brauchen, ist ein Tor.
Wann fällt denn das erste Tor bei der WM? Ganz sicher im
Eröffnungsspiel.
Minute? 15. Minute. Und wenn das stimmt, spielen wir beide ab
jetzt Lotto...
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Datum: 11.06.2014 - 20:38 Uhr
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